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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Sie streckte den Kopf hoch zur Decke, versuchte, noch Luft zu schnappen, verschluckte sich.
    Er stieß die Tür auf und zog Nadjeschka mit hinaus. Sofort ergriff sie die Strömung, sie wurden fortgerissen wie willenlose Puppen. Er versuchte, einen Ast zu packen, schrammte sich den Arm auf. Das Wasser zerrte sie weiter.
    Nur nicht zur Mitte des Tals, dachte er, da wird das Wasser am schnellsten strömen. Hier am Rand, bei der Straßentrasse, hatten sie vielleicht eine Chance. Nadjeschkas Hand krallte sich in seinen Arm. Er ruderte nach oben, stieß durch die Wasseroberfläche und schöpfte Atem. Nadjeschka erschien neben ihm. Sie keuchte, spuckte Wasser.
    »Dort rüber, zu den Bäumen«, sagte er.
    »Nein, warte!«
    Er hörte nicht auf sie. Er schwamm los und zog sie mit. Das kalte Wasser ließ seine Hose schwer werden, seine Schuhe. Es versuchte, ihn zu lähmen. Aber er kämpfte, er legte allen Überlebenswillen in diese Schwimmzüge, obwohl ihn die Prellungen schmerzten.
    Schon spürte er Äste unter den Füßen, die Beine verfingen sich darin. Er streckte den linken Arm nach einer Baumkrone aus, die aus den Fluten ragte. »Hilf mir«, ächzte er. »Halt dich hier fest!«
    Nadjeschka fasste nach einem Ast und umklammerte ihn. Sie zogen sich aus dem Wasser. Triefend und zitternd krochen sie in die Baumkrone, unter sich die endlose schwarze Flut.
    »Seid ihr das? Georg?« Offenbar saß Axel in einem Baum in der Nähe.
    Er legte Nadjeschka die Hand auf den Mund.
    »Scheiße, ich hab mir den Arm ausgerenkt, glaube ich.« Axel stöhnte auf. »Ihr seid es doch!«
    Sie schwiegen.
    »Glaubt ja nicht, dass sich jetzt etwas ändert! Es bleibt alles so, wie es ist. Die Alliierten haben also den Damm zerstört. Na und? Wir haben genug andere Dämme!«
    Er flüsterte Nadjeschka ins Ohr: »Hast du Kraft, noch einmal zu schwimmen? Wir müssen weg von hier, solange es Nacht ist. Sonst nehmen sie uns morgen früh fest.«
    »Gib mir ein paar Minuten. Ich muss Luft schöpfen.«
    Axel grölte: »Die Bevölkerung wird die Engländer dafür hassen. Der Hass macht uns nur stärker. Mit Russland einigen wir uns, und dann geht es nach England, wir bringen denen den Krieg nach Hause! Wir bauen Europa zur Festung aus. Niemand wird uns Europa nehmen.«
    Nadjeschka holte tief Luft. Dann flüsterte sie: »Los.«
    Sie ließen sich ins kalte Nass gleiten und schwammen fort.
    Axel rief: »Seid ihr wahnsinnig geworden? Ihr ersauft bei dieser Strömung! Ihr ersauft alle beide!«

38
    Schon beim dritten Schwimmzug bemerkte Georg, dass er seine Kräfte überschätzt hatte. Mit Leichtigkeit zog ihn die Flut in die Talmitte, wo sie mit großer Geschwindigkeit dahinjagte. Ein unsichtbarer Unterwassersog zerrte an ihm, wieder und wieder wurde sein Kopf untergetaucht, er schluckte Wasser. Mit Mühe kämpfte er sich heraus – da schien Nadjeschka hineinzugeraten, sie japste nach Luft, verschwand, tauchte wieder auf, verschwand erneut.
    Er streckte die Hand nach ihr aus und bekam ihren Arm zu packen. Mit aller Kraft zog er daran. Kaum war Nadjeschka bei ihm, kaum hatte er sie zu sich gerettet, umklammerte sie ihn panisch. Mit dem zusätzlichen Gewicht bereitete es ihm Mühe, den Kopf über Wasser zu halten.
    Verzweifelt sah er sich nach Rettung um. Ein Hausdach in der Flut war ihre einzige Chance.
    Er legte seine allerletzten Kraftreserven in die Schwimmzüge. Japsend hielt er sich am Rand des Dachs fest. Nadjeschka hing an ihm. Als er Atem geschöpft hatte, zog er sich hinauf und half auch ihr auf die Dachschindeln. Dann brach er zusammen, lag einfach dort, schnatternd vor Kälte. Er war zu ermattet, um sich die nassen, schlammverschmierten Kleider vom Leib zu streifen. War nicht einmal mehr fähig, den Kopf zu heben und nachzusehen, wohin das Wasser sie trieb.
    Jemand schrie. Georg drehte mühsam den Kopf zur Seite. Sie überholten ein Haus, das in den Fluten schwamm. Eines der Zimmer war von Kerzenlicht erleuchtet, auf dem Fensterbrett balancierte eine Katze. Das Stockwerk darunter war nur noch halb zu sehen. Durch ein Mauerloch schwammen Möbel nach draußen. Menschen konnte er nicht sehen. Das Haus versank, und das Schreien verstummte.
    Nadjeschka schien nichts von alledem zu bemerken. Sie hielt die Augen geschlossen und lag still da.
    Er fasste nach ihrer Hand. Sie war eiskalt. »Nadjeschka«, mur melte er. »Wir dürfen nicht schlafen. Du musst wach bleiben.«
    Sie sagte nichts. Ihre Augenlider flatterten. Obwohl es ihn unendliche Überwindung

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