Nachtauge
Menschentraube umlagert. Verzweifelte Frauen versuchten, an anderer Stelle über den Zaun zu klettern, und blieben blutend im Stacheldraht hängen. Andere erklommen die Dächer der Baracken.
Da hob das Wasser die erste hoch, wälzte sie herum. Robert holte Luft, er nahm sich vor, sich mit den Füßen abzustoßen und nach oben zu schwimmen. Mit Gewalt schlug das Wasser gegen seinen Körper. Er wurde an den Zaun gepresst, die Flut wickelte ihn darin ein und wirbelte ihn herum, wieder und wieder. Wasser spülte in seinen Mund und drückte sich in die Lungen. Er zappelte, zuckte. Versuchte, sich aus dem Zaun zu befreien. Endlich schwanden ihm die Sinne.
Als Anneliese im Luftschutzkeller ankam, an einer Hand Lilli, in der anderen den Koffer mit dem Nötigsten, war der Raum bereits überfüllt. Siegfried ging gleich zu seinem Spielkameraden Klaus-Andreas und sie begannen herumzualbern. Die Männer spielten Karten, die Frauen redeten. An Schlaf war wieder einmal nicht zu denken.
Eine freundliche Nachbarin rückte ein Stück und machte ihr Platz. Anneliese setzte sich und nahm Lilli auf den Schoß. Wenigstens die Kleine sollte ein wenig schlafen, sonst würde sie morgen unausstehlich sein. Hoffentlich stieß Axel nichts zu!
»Ist doch Unsinn«, sagte die Frau neben ihr, »warum zwingen sie einen in die Bunker, wenn doch keine Bomben fallen? Ich wollte wieder hochgehen in die Wohnung, aber man hat mich nicht gelassen. Diese Luftschutzaufseher sind eine Plage.«
Siegfried ging zur Treppe. Er patschte mit dem Schuh in eine Pfütze. »Guck mal, Klaus-Andreas, da läuft Wasser die Treppe runter.«
Der Spielkamerad kam angestürmt. »Astrein! Los, wir bauen uns Papierschiffe!«
Anneliese stutzte. War da eine Leitung geborsten? Wo kam das Wasser her? Als sie draußen Schreie hörte und Rumpeln und Krachen, fuhr sie hoch. »Siegfried, weg von der Tür!« Gab es Explosionen? Warfen sie Bomben ab über Neheim?
Erstaunlicherweise gehorchte Siegfried. Er schien selbst Respekt zu bekommen. Aus dem Rinnsal war ein kleiner Bach geworden. Auch Klaus-Andreas wich zurück. Alle fünfzig Nachbarinnen und Nachbarn fingen an, durcheinanderzureden, wie ein Lauffeuer ging das Stichwort »Möhnetalsperre« durch den Raum.
Zwei Männer wagten sich die Treppe hinauf und öffneten die Tür. Sie wurden von einem Wasserschwall zurückgeschleudert. In Panik versuchte nun jeder, zur Treppe zu gelangen, doch das Wasser spülte sie mit Macht zurück. Es füllte gurgelnd den Kellerraum.
Anneliese drückte die weinende Lilli an sich, Siegfried schwamm zu ihr. Sie umarmte ihre Kinder. Während das Wasser sie an die Wand drückte, betete sie: Herr Jesus, nimm wenigstens meine Kleinen zu dir. Nimm unsere Schuld auf dich und erlöse uns. O Herr, lass es schnell gehen, vor allem für Lilli.
Zuerst wusste Georg mit der schwarzen Lawine im Rückspiegel nichts anzufangen. Erst, als er sich umdrehte und sah, wie sie die Häuser anhob, begriff er. Axel schien sie ebenfalls bemerkt zu haben, er trat aufs Gas. Fünfzig Stundenkilometer, sechzig. Das Wasser holte den hinter ihnen fahrenden Mercedes ein, es verschluckte ihn. Vor ihnen lag eine Kurve, die würde sie die letzten Meter Vorsprung kosten, sie konnten nicht geradeaus fahren und weiter beschleunigen, sonst würden sie die Böschung durchstoßen und hangabwärts stürzen. Axel bremste fluchend, lenkte in die Kurve, drückte wieder aufs Gas.
Es erwischte den Ford seitlich. Sie wurden umgeworfen und von der Flut mitgerissen. Georg flog durch das Auto, er stieß sich den Rücken, die Hüfte. Das Auto drehte sich, schlingerte, dann krachte es in einen Baum und blieb hängen. Die Karosserie ächzte unter dem Ansturm von Wasser. Georg fiel auf seinen Platz zurück, er wusste nicht mehr, wo oben und unten war.
Er versuchte, die Tür zu öffnen. Erfolglos. Eilig kurbelte er die Scheibe herunter, nur ein kleines Stück. Schlammiges Wasser strömte durch den Spalt herein.
Nadjeschka rief: »Was tust du da!«
»Ich kriege sonst die Tür nicht auf. Nass werden wir so oder so.«
Axel tat es ihm gleich. Der Gestapobeamte neben Axel, vorn auf dem Beifahrersitz, hatte scheinbar das Bewusstsein verloren, Axel rüttelte ihn. »Wachen Sie auf, Mann! Es geht um Leben und Tod!«
Allmählich füllte sich das Auto mit kaltem Wasser. Georg drückte Nadjeschka die Hand. »Hol noch mal tief Luft«, sagte er, »und dann komm mir nach.«
Sie hielt seine Hand fest. »Warte! Warte, ich …« Ihr Reden ging in Gurgeln über.
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