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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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jemand?«
    »Wir tun, was wir können«, sagte die Schwester.
    »Man gewinnt den Eindruck, Sie tun überhaupt nichts, außer hier Patienten zu sammeln!«
    »Sämtliche Ärzte und Schwestern des Hauses sind im Einsatz. Glauben Sie mir, es geht nicht schneller.« Sie verließ den Raum.
    Er ging ihr nach. Im Korridor zeigte er ihr seine Marke. »Bringen Sie mich sofort zu einem Arzt. Während wir hier reden, entkommen gefährliche Verbrecher!«
    Die Schwester war sichtlich übermüdet. Für einen Streit reichte ihre Kraft nicht mehr. Sie schüttelte zwar den Kopf, brachte ihn aber trotzdem zu einem Mann ins Behandlungszimmer, der, falls er Arzt war, sein Studium im Kindergarten begonnen haben musste, so jung sah er aus.
    »Sind Sie Arzt?«, fragte er ungläubig.
    »Der Herr ist von der Gestapo«, erklärte die Schwester. »Er sagt, es sei dringend.«
    Der Mann im Kittel ließ sie gehen. Er sagte, an Axel gewandt: »Was kann ich für Sie tun?«
    »Sind Sie Arzt?«, wiederholte er seine Frage.
    »Ich mache meine Famulatur.«
    Na immerhin. »Mein Arm ist ausgekugelt. Ich habe einen Landesverräter und ein volksfremdes Element festgenommen. Die Flut hat uns im Wagen über – Au! Was tun Sie da!«
    Der Arzt zog den Arm leicht nach unten, dann nach vorn. Axels Schulter fühlte sich dabei an, als bohre jemand einen glühenden Metallstab hinein. Der Arzt sagte: »Sie haben eine Schulterluxation.« Er tastete ihn ab. Jeden Fingerdruck spürte Axel bis in die Knie.
    »Hören Sie auf!«, brüllte er. »Sie haben’s doch schon rausgefunden, also drücken Sie da nicht länger rum!«
    Der Arzt sagte ruhig: »Ich werde Ihnen den Arm wieder einrenken. Das könnte kurz wehtun.«
    Schon bereute er, den Mann angeschrien zu haben. Er hatte ihn in der Hand. Wenn er wollte, konnte er ihm furchtbares Leid zufügen. »Seien Sie vorsichtig, ja?«
    Der Arzt zog am Oberarm und drehte ihn gleichzeitig nach außen. Axel ging in die Knie vor Schmerzen und jaulte auf.
    »Das war’s schon«, sagte der Arzt. Er stützte ihn.
    »So? Mehr haben Sie nicht auf Lager?«, ächzte Axel sarkastisch.
    Der Arzt hängte ihm den Arm in eine Schlaufe. »Drei Wochen, dann sind die Beschwerden weg.«
    »Besten Dank. Muss ich noch zur Beobachtung hierbleiben?«
    »Nein, Sie können gehen.«
    Tatsächlich ließ der Schmerz schnell nach. Als er vor das Hospitalgebäude trat, fühlte sich die Schulter schon viel besser an. Die Sonne war aufgegangen, es wurde wärmer.
    Er fragte einen jungen Mann, der seinen blutenden Vater stützte: »Wo werden die Toten hingebracht?«
    »Sankt Johannes Baptist.«
    Wie gut man sich fühlte, wenn man dem Tod von der Schippe gesprungen war! Die Stadt sah furchtbar aus, aber er war froh, am Leben zu sein und den Sonnenschein im Gesicht zu spüren. Hunger hatte er auch. Er tastete mit dem unversehrten Arm nach seiner Brieftasche und fand sie nicht. Er musste sie in der Flut verloren haben. Wie ärgerlich! Geld war nicht viel darin gewesen, aber er würde sich neue Lebensmittelmarken beschaffen müssen.
    Er betrat die Kirche. Zuletzt war er als Kind einmal hier gewesen, aus Neugier. Erstaunt sah er zur hohen Decke hinauf. So groß hatte er das Gebäude gar nicht in Erinnerung gehabt.
    Der Weg nach vorn zum Altar war weit, es mussten fast siebzig Meter sein. Durch die weiß gestrichenen Wände und die weißen Säulen wirkte das Kirchenschiff noch voluminöser. Das machen sie aus Berechnung, dachte er. Sie wollen, dass man sich klein fühlt. Und dann hängen sie das Kreuz hoch oben auf, damit man aufblicken muss zu ihrem Jesus.
    Sein Vater hatte immer von diesem Kreuz geschwärmt. Triumphkreuz hieß es und stammte aus dem Mittelalter. Was daran ein Triumph sein sollte, dass der Mann an einem Holzkreuz festgenagelt war, begriff er nicht. Noch dazu hatte man dem geschnitzten Mann Blut an die Hände und Füße gemalt.
    Wenn dieses Geheul der Leute nicht wäre, hätte er sich gern noch ein wenig umgesehen. Aber der Widerhall in der Kirche verstärkte es und machte es unerträglich. Er wandte sich dem Seitenschiff zu, an dessen Wand die Ertrunkenen aufgereiht waren.
    Eine Frau hockte vor einem Männerkörper und hielt die nackten Füße des Toten umklammert. Sie wimmerte. Andere weinten lauter, oder sie gingen mit stummem Fragen an den Leichen vorbei, sahen jedem ins Gesicht, suchten nach ihren Angehörigen. Wer am Ende der Reihe angekommen war, machte mit Erleichterung kehrt und verließ die Kirche.
    Freut euch nicht zu früh, dachte er. Sie

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