Nachtauge
kostete, richtete er sich auf und kroch zu ihr hinüber. Er rieb ihre Oberarme, hauchte ihre Wangen an. »Nadjeschka. Du darfst jetzt nicht einschlafen!«
Das Dach blieb irgendwo hängen. Unter ihnen krachte es, ein Balken splitterte, und ein Drittel des Dachs löste sich, Ziegel versanken. Nadjeschka erschrak, sie öffnete die Augen. »Mir ist so kalt«, flüsterte sie. Die einzelnen Worte gingen ineinander über, sie waren schwer zu verstehen. »Ich kann nicht mehr schwimmen.«
»Du musst nicht. Wir bleiben hier, auf dem Dach.« Er fasste sie unter die Achseln und zerrte sie höher hinauf, hin zum Schornstein. Offenbar waren sie auf den Resten einer Brücke aufgelaufen, einige Meter entfernt ragte ein steinerner Pfeiler aus dem Wasser.
Tote Kühe trieben vorüber. Mittendrin eine lebendige, die den Kopf aus den Fluten reckte und vor Angst brüllte.
»Ich kann nicht mehr«, hauchte Nadjeschka. »Ich kann einfach nicht mehr.«
Er sagte: »Bald geht die Sonne auf. Die wärmt uns.«
Sie reagierte nicht.
Obwohl er selbst so müde war, dass ihm immer wieder die Augen zufielen, zwang er sich, mit ihr zu reden. »Ich muss dir was gestehen. Ich hab dich singen gehört, damals, im Keller unter der Bürobaracke. Du hast eine wunderbare Stimme.«
»Danke«, hauchte sie, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Singst du für mich?«
Ihre Augen blieben zwar weiterhin geschlossen, aber sie sagte stockend: »Bei uns in der Familie … haben wir oft im Dunkeln gesungen. Nur eine … Kerze brannte dazu. Man hört die Melodie besser, es ist nur das Lied da. Nur die Stimme.«
Er dachte an Großvater. Bestimmt war er nicht aus dem anderen Auto gekommen, und selbst wenn ihm das gelungen sein sollte, hatte er in seinem Alter nicht genug Kraft besessen, um ausdauernd zu schwimmen.
Es war still, nur das Wasser rauschte und gurgelte. Da summte Nadjeschka eine Melodie. Die Tonfolge war fremd artig und wehmütig. Verlorenheit schwebte darin und zugleich Heimat. Nur ein paar Töne, danach schwieg sie.
In der Morgendämmerung verblassten die Sterne. Georg konnte nicht mehr auf die Sonne warten. Ihm fielen die Augen zu.
»Hierher!«, brüllte Axel.
Das Militärschlauchboot drehte bei und kam heran.
»Kriminalinspektor Axel Rottländer«, stellte er sich vor, »Geheime Staatspolizei. Mein Arm ist ausgekugelt, glaube ich. Bringen Sie mich zu einem Lazarett.«
Die Soldaten halfen ihm vom Baum herunter und hoben ihn in das Schlauchboot. Der Motor brummte, sie fuhren auf das Wasser hinaus. In der Dämmerung kam Neheim in Sicht. Beide Brücken fehlten, weder an der Möhnepforte noch an der Werler Straße konnte man die Möhne überqueren. Und was war das für eine Möhne! Ein Meer von einem Fluss. Wo Fabriken am Ufer gestanden hatten und Wohnhäuser, war nur noch Wasser. Georgs Zwangsarbeiterinnenlager war völlig verschwunden, seine Reste mussten auf dem Boden dieses neuen Meeres liegen. Die Stadt war in zwei Hälften geteilt, als lägen sie auf verschiedenen Kontinenten.
Sie steuerten in Richtung der Sankt-Johannes-Kirche. Auf erhöhtem Boden ließ man ihn an Land. Gleich stürmten Hilfe suchende zum Schlauchboot. »Mein Kind!« – »Meine Frau! Sie ist dort draußen, irgendwo.« – »Haben Sie meinen Sohn gesehen?« – »Bitte, ich muss auf die andere Seite, meine alte Mutter ist dort drüben.«
Er drängte sich durch die Menge und lief hinüber zum Sankt-Johannes-Hospital. Dort sammelten sich vor den Türen Verwundete. Ein Arzt wählte die dringenden Fälle aus und ließ sie von Schwestern ins Gebäude bringen.
Axel zeigte seine Marke. »Ich bin im Dienst. Die Schulter ist ausgekugelt, denke ich.«
Der Arzt seufzte, ließ ihn aber ein.
Inmitten jammernder, blutender Menschen musste er in einem überfüllten Raum sitzen. Viele waren wie er mit Schlamm überzogen, Gesicht und Hände waren dreckig, die Haare ein wildes Nest. Es roch nach Erbrochenem.
Er dachte an Anneliese und die Kinder. Wie war es ihnen wohl ergangen? Anneliese war so ängstlich, sie war sicher beim ersten Warnzeichen hügelan gelaufen und hatte sich, die Kinder und die Nachbarn in Sicherheit gebracht. Aber sie würde sich Sorgen um ihn machen. Er sollte demnächst zu Hause vorbeischauen und sie beruhigen.
Eine halbe Stunde verging, ohne dass jemand aus dem Raum geholt wurde. Nur Neue kamen hinzu. Er wurde wütend. Als die Schwester einen weiteren Verletzten hereinbrachte, sagte Axel: »Entschuldigung, ich habe Schmerzen! Kommt da bald mal
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