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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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spazieren.«
    »Ach so? Legen Sie sich bei jedem Spaziergang auf die Lauer?«
    »Hören Sie, es ist nicht, wie Sie denken. Ich habe mich nur hingelegt, um auszuruhen, und Sie ganz zufällig gesehen.« Er dachte nach. Diese Stimme … Der Mann hatte Angst. Vielleicht fürchtete er genauso, entdeckt zu werden, wie er. »Darf ich mich umdrehen? Ich hab Sie doch sowieso schon gesehen.«
    Der Mann gab keine Antwort.
    Zentimeter für Zentimeter drehte Georg sich um und hielt dabei die Hände in die Höhe gestreckt. Der Mann hatte tatsächlich eine Pistole in der Hand. Seine Wangen waren gerötet vor Aufregung und die blauen Augen weit geöffnet. »Machen Sie keinen Fehler«, sagte Georg. »Sie erschießen den Falschen.«
    »Was soll das heißen?«
    Das abgelegene Waldgebiet. Die Angst, gesehen zu werden. Es gab nur eine Erklärung. »Ich bin genauso auf der Flucht wie Sie.«
    »Auf der Flucht vor wem?«
    »Vor der Gestapo. Was glauben Sie, warum ich hier bin?«
    »Was haben Sie getan?«
    »Ich war Leiter des Barackenlagers auf den Möhnewiesen und habe mich in eine der Ostarbeiterinnen verliebt.«
    Die Kiefermuskeln des Mannes spielten. Er musterte Georg argwöhnisch.
    »Bitte nehmen Sie die Waffe runter. Ich werde Sie nicht verraten. Wenn Sie uns ein paar Tage Zeit geben, verschwinden wir wieder aus Ihrem Revier.«
    »Uns?«
    Verdammt. Jetzt hatte er Nadjeschka mit reingezogen. Aber er spürte: Das war keine Falle. Es war absurd – er vertraute dem Mann, der eine Pistole auf ihn gerichtet hielt. »Die Ukrainerin ist ebenfalls entkommen. Wir hoffen, dass man uns für tot erklärt.«
    Zögerlich nahm der Mann die Waffe herunter. »Sie haben ganz schön Mut, mir das alles zu erzählen. Was, wenn ich zu einem Suchtrupp gehöre, der Sie im Wald aufstöbern soll?«
    »Dann hätten Sie mich mit Hass angesehen, nicht mit Sorge. Wovor laufen Sie weg?«
    »Sie denken, das binde ich Ihnen auf die Nase?«

40
    »Ich traue ihm nicht«, flüsterte Nadjeschka. Georg bedeutete ihr zu schweigen. Der Mann, der ihnen gesagt hatte, sie sollten ihn Walter nennen, drehte am Knopf des Radios. Aus dem Lautsprecher ertönte leise: »Achtung, Achtung, Primadonna meldet«, gefolgt von Feindeinflügen in Bereiche bestimmter Zahlenkombinationen, die Stimme sagte Dinge wie »schwere Bomberverbände nach B9, C4« und »Störflieger nach E4, G9«. Walter hatte eine Karte auf den Klapptisch gelegt, in die er entsprechende Planquadrate eingezeichnet hatte, und zeigte mit einem Bleistift auf die jeweilige Position. »Dortmund«, murmelte er, »wieder.«
    Walters Unterstand schmiegte sich an einen Hügel und war mit Laub und Zweigen unkenntlich gemacht, Decken hingen vom primitiven Dach herab und halfen ein wenig gegen die Abendkälte. Trotzdem hatte Georg das Gefühl, sich in einem Gefechtsstand an der Ostfront zu befinden und nicht im Arnsberger Wald anderthalb Wanderstunden von Neheim entfernt.
    Walters Bleistift verharrte, obwohl der Militärsender weitere Planquadrate ansagte. Etwas lähmte ihn. Georg fragte: »Kommen Sie aus Dortmund?«
    »Aus Essen. Fünfter März. Du denkst, du kannst dich schützen. Den Dachboden von allen brennbaren Gegenständen leerräumen. Die Dachbalken mit feuerfestem Anstrich versehen. Äxte und Schaufeln bereithalten. Die Kellerdecken abstützen, die Kellerfenster abdichten und Gefäße mit Wasser hinstellen. Aber am Ende hilft das alles nichts. Die Bombe rauscht ins Haus und zerstört dein Leben.«
    »Haben Sie im Bombenangriff Kinder verloren?«
    »Nein.« Ein bitterer Zug erschien auf seinem Gesicht. »Unser Sohn war schon tot. Erschossen von seinem eigenen Offizier wegen ›Feigheit vor dem Feind‹.«
    Allmählich begriff er, was Walter in den Widerstand gegen die Nationalsozialisten getrieben hatte. »Tut mir leid, das zu hören. Wirklich.«
    »In der Bombennacht habe ich meine Frau verloren.« Plötz lich kam Bewegung in ihn. Er angelte unter der Landkarte eine alte Zeitungsseite hervor und kritzelte etwas darauf.
    »Was notieren Sie?«
    »Nichts weiter. Ich hatte einen Einfall. Das passt zur Talsperrenbombardierung. Erinnern Sie sich daran, wie Göring zu Kriegsbeginn im Rundfunk verkündet hat: ›Wenn auch nur ein feindliches Flugzeug unser Reichsgebiet überfliegt, will ich Meier heißen‹? Das muss ich den Leuten ins Gedächtnis rufen.«
    »Wie das?« Vielleicht hatte Nadjeschka recht. Der Mann war nicht ganz bei Trost.
    »Ich gehe in die Leihbibliotheken und schreibe es in häufig gelesene Romane. Und ich

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