Nachtauge
tippe kleine Zettel, die ich in Streichholzschachteln im Stadtgebiet verteile.«
»Sie sind das!«
Walter strahlte. »Haben Sie eine Schachtel gefunden?«
Von Axel durfte er ihm auf keinen Fall erzählen. »Nicht ich. Ein weitläufiger Freund von mir.«
»Am besten funktionieren kurze Sätze, über die man zuerst lachen muss. Kennen Sie den? Was ist der Unterschied zwischen Christus und Hitler?«
Er dachte nach. »Was ist der Unterschied zwischen …? Keine Ahnung.«
»Bei Christus starb einer für alle.«
Er musste tatsächlich lachen. Trotzdem, was der Mann tat, war hirnrissig. Er setzte für politische Witze in Streichholzschachteln sein Leben aufs Spiel. »Was erreichen Sie damit? Ich meine, kleine Botschaften in Romanen, Zettel in Streichholzschachteln … Wie wollen Sie die Leute damit zum Widerstand aufstacheln?«
»Darüber habe ich mit einem Freund lange diskutiert. Er ist Pfarrer, ich schätze seinen Rat sehr. Wissen Sie, er hat diese überirdische Perspektive. Er sagt, Jesus hat das Himmelreich mit einem Senfsamen verglichen, aus dem später ein Baum wird. Genauso kann etwas Kleines, das wir tun, Großes bewirken.«
Nadjeschka hob den Kopf. »Ich kenne Ihren Freund! Er hat mir geholfen, aus dem Straflager am Plettenberg zu entkommen!«
Walters Gesicht hellte sich weiter auf. »Ein Pfundskerl, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie leise.
»Was ist?«
»Auf der Flucht wurden wir entdeckt, und sie haben auf uns geschossen. Ich muss Ihnen leider sagen, dass er …«
Walter hob abwehrend die Hände. »Nicht er. Nicht auch noch er.« Tränen traten in seine Augen. Er stand auf und ging nach draußen.
»Soll ich ihm nachgehen?«, fragte Georg.
»Nein.« Nadjeschka fasste nach seinem Arm. »Lass ihn. Er muss innerlich Abschied nehmen. Dabei können wir ihm nicht helfen. Zum Trösten ist später Zeit.«
»Also willst du hierbleiben?«
Sie nickte. »Ich weiß jetzt, dass wir ihm vertrauen können.«
Tagsüber war Walter fort, um seine Zettel zu platzieren. An den Abenden redeten sie. Er schien froh darüber zu sein, endlich jemanden gefunden zu haben, mit dem er sich austauschen konnte. Zwar traf er von Zeit zu Zeit an geheimen Orten andere Aufständische, aber niemand außer Nadjeschka und Georg kannte sein Versteck im Wald, weshalb sein Leben hier bisher sehr einsam gewesen war.
Einen ganzen Abend lang diskutierten sie darüber, wie es mit dem Krieg weitergehen würde. »Hitler schließt mit Russland einen Vergleich«, sagte Walter. »Er wird das meiste wieder verlieren, was er dort erobert hat, doch ihm bleibt keine Wahl. Alles läuft auf Europa hinaus. Das wird er behalten wollen. Er wird sich einbunkern und versuchen, den Amerikanern und Engländern so große Verluste zuzufügen, dass sie aufgeben. Am Ende überrollen sie ihn.«
Georg staunte. »Wie können Sie da so sicher sein? Die Amerikaner haben keine Lust auf ein Kräftemessen mit uns, seit der Kriegserklärung vor anderthalb Jahren halten sie die Füße still, sie liefern höchstens Fahrzeuge und Waffen nach Russland. Wer soll die Deutschen aus den besetzten Ländern vertreiben? England allein ist zu schwach dafür.«
»Es gibt genügend Anzeichen. Erinnern Sie sich an die wöchentlichen Erfolgsmeldungen zum U-Boot-Krieg in den Zeitungen? Soundso viele Schiffe der Feinde versenkt, ein Jubelruf nach dem andern? Inzwischen ist es auffallend still um die U-Boot-Flotte geworden, schon gemerkt? Erfolge werden gar nicht mehr erwähnt.«
»Warum ist das so?«, fragte Nadjeschka.
Walter wiegte den Kopf. »Manche munkeln, dass die Engländer eine neuartige Waffe haben, einen Granatwerfer, den sie sehr effektiv gegen unsere U-Boote einsetzen.«
»Die U-Boote werden wohl kaum den Krieg entscheiden«, wandte Georg ein.
Nadjeschka pflichtete ihm bei. »Geht es nicht eher um die Panzer?«
»Ach was!« Walter winkte ab. »Viel schlimmer ist unsere Wehrlosigkeit gegenüber den feindlichen Bombern! Da können wir noch so viele Panzer haben. Sehen Sie sich bloß das Desaster mit den Talsperren an! Und die Großstädte, die in Schutt und Asche liegen. Wir verlieren allmählich die Lufthoheit über den eigenen Gebieten. Ich sage Ihnen, wenn die Alliierten erst mit Afrika fertig sind, werden sie in Südeuropa einfallen, und dann haben wir bald eine weitere Schlachtlinie an den Alpen. Ist bis dahin nicht der Waffenstillstand mit Russland in trockenen Tüchern, werden wir wohl kaum genügend Männer haben, um gleichzeitig an allen Fronten
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