Nachtauge
wanderte durch die stille Wohnung. In Siegfrieds Zimmer sah er das Plakat mit den aufgeklebten Bildern der Ritterkreuzträger. Wie sehr hatte sich Siegfried immer gewünscht, dass er sich einmal für diese Sammelbilder Zeit nahm! Unter jedem Kästchen war der Name aufgedruckt und ob der Mann noch lebte oder gefallen war und wie viele Panzer oder Flugzeuge er abgeschossen hatte. Etliche Kästchen waren von Siegfried mit den passenden Bildern gefüllt worden. Die leeren würden für immer leer bleiben.
Er hörte Siegfrieds Stimme, voller Begeisterung. »Schau hier, Benno Herrmann, den hab ich neu, Papa. Armin Pfaffendorf hab ich getauscht. Da, guck, Ludwig Kepplinger, der ist bei der Waffen- SS , er hat mit zwei anderen ein ganzes feindliches Fort zur Aufgabe gezwungen.«
Vor Lillis leerem Kinderbettchen schluchzte er auf, es klang wie ein tierischer Laut, gar nicht wie er selbst. Sein eige nes Leid erschreckte ihn. Er fasste nach Lillis kleinem Kopfkissen und drückte es an sein Gesicht. Heiße Tränen tränkten es.
Am nächsten Morgen hatte er noch immer Kopfschmerzen vom stundenlangen Weinen. Er sah lange in den Spiegel und fragte sich, ob er so zur Arbeit gehen konnte. Es klingelte. Frau Maier brachte ihm ein Tablett mit Brötchen und Ersatzkaffee. Sie sagte nichts, sah ihn nur mitleidig an und überreichte es. Auch die Tageszeitungen aus seinem Briefkasten lagen darauf.
Er bedankte sich, setzte sich in die Küche und aß. Warum waren Maiers nicht im Luftschutzkeller gewesen? Missmutig blätterte er die Zeitungen durch. Es waren viele Todesanzeigen darin. Was sollte er schreiben? »Für Führer, Volk und Vaterland«, das war das Häufigste, da konnte man nichts falsch machen. Bei Todesfällen an der Front schrieben viele auch »Für sein teures Vaterland und den festen Glauben an den Sieg Deutschlands« oder »Im Kampf gegen den Bolschewismus und das Untermenschentum«.
Auf den Zeitungsrand notierte er:
Für Deutschlands Größe und Freiheit starben meine geliebte Ehefrau, Anneliese Rottländer, geborene Hartmann, und unsere Kinder Siegfried und Lilli. In stolzer Trauer, Axel Rottländer.
So würde er die Anzeige aufsetzen.
Die amtlichen Meldungen überflog er nur, bis sein Blick an einem kleinen Artikel hängen blieb. Das war alles, was sie über die Bombardierung der Talsperren bekanntgaben: Ein schwaches britisches Geschwader sei ins deutsche Gebiet eingedrungen und habe die Talsperren beschädigt. Es gebe einigen Sachschaden und Verluste unter der Zivilbevölkerung. Die Zahl der Toten erwähnten sie nicht.
Natürlich, bei den meisten Umgekommenen handelte es sich um Ostarbeiterinnen, nahezu fünfhundert von ihnen waren ertrunken, hatte er gehört, dazu französische und belgische Kriegsgefangene. Aber um wie viel mehr schmerzten die Deutschen, die tot aufgefunden worden waren!
Er schlug den Westfälischen Anzeiger auf. Hier wurde das Thema schon größer behandelt, vor Ort hatten die Leute ja sowieso mitbekommen, was passiert war. Auf der Titelseite hieß es: »Der jüdische Anschlag auf die Talsperren«. Juden sollten das angezettelt haben? Das würde zu ihnen passen. Aus Wut darüber, dass man diese Parasiten aus dem Großdeutschen Reich geworfen hatte, intrigierten sie nun in England und Amerika gegen die Deutschen.
Er blickte auf. An Annelieses Tod war jemand anders schuld als er. Einer, der sein persönliches Glück über das Wohl des Volkes stellte, der sich einfach nicht in die Volksgemeinschaft einfügen wollte. Schon als Georg ihn damals um Hilfe bat, dem Frontbefehl zu entgehen, hätten bei ihm die Alarmglocken läuten müssen. Wer nicht dazu bereit war, sich an der Front für das deutsche Volk zu bewähren, der war ein Feigling, ein niederträchtiger, falscher Egoist. Das hatte sich nun bewiesen. Georg würde dafür büßen. Für Annelieses Tod und für Lillis und Siegfrieds.
Winston Churchill ballte nervös die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Die Amerikaner wussten, wie man prunkvoll Macht demonstrierte. Schon von außen waren das Kapitol und seine weiße Kuppel ein beeindruckendes Symbol für Amerikas Herrschaftswillen, hier drinnen aber im Plenarsaal des Repräsentantenhauses zeigte sich noch deutlicher, an welches Reich der Antike man anzuknüpfen suchte: Bronzene Fasces flankierten die gigantische US -Fahne an der Wand, Rutenbündel der römischen Republik. Die Botschaft war sicher an die Bundesstaaten gerichtet. Einzeln waren die Zweige schwach, zusammengebunden als Rute
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