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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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waren sie stark.
    Er musterte die Rednerbühne aus dunklem Holz. Waren das Lorbeerzweige, die sie verzierten?
    Zur Rechten hing ein Gemälde von George Washington, dem ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Zur Linken – wer mochte das sein? Der Marquis de Lafayette, der erste ausländische Abgesandte, der bei einem Joint Meeting des Kongresses gesprochen hatte?
    So wie er, Winston, heute. Der Sprecher des Repräsentantenhauses kündigte ihn an. Winston räusperte sich noch einmal, stand auf und trat ans Pult. Es gab höflichen Applaus. Dann war es still.
    Er sah den hundert Senatoren und vierhundert Abgeordneten in die Gesichter. Hier schmiedeten sie ihre Gesetze, hier entschieden sie über Krieg und Frieden und über das Budget dafür.
    Zu seiner Rechten saßen die Mitglieder der Demokraten, zur Linken die Republikaner. Leider mochten beide England zurzeit nicht besonders gut leiden. Als er das letzte Mal hier gewesen war, vor anderthalb Jahren, hatte man ihn und England geliebt. Es war kurz nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor gewesen, und die Amerikaner hatten auf britische Unterstützung im Pazifik gehofft.
    Inzwischen aber war das Ansehen der Briten erheblich gesunken, und was auch immer Roosevelt und er besprachen, sie kamen nicht vorbei an dieser Versammlung von Entscheidungsträgern. Die musste er überzeugen, wenn es einen raschen Angriff in der Normandie geben sollte. Doch er sah es an ihren ernsten Gesichtern, sie hatten vor, ihn abzuweisen. Sie verdächtigten England, eine Erweiterung der eigenen Macht anzustreben und dafür die amerikanischen Streitkräfte vor den Karren zu spannen. Viele glaubten, dass amerikanische Soldaten in Europa sinnlos verheizt wurden.
    »Mr President«, sagte er, »Mr Speaker, verehrte Mit glieder des Senats und des Repräsentantenhauses: Siebzehn Monate sind vergangen, seit ich zuletzt die Ehre hatte, zum Kongress der Vereinigten Staaten zu sprechen. Mehr als fünfhundert Tage haben wir uns geplagt und Verluste erlitten und Großes gewagt, haben Seite an Seite gegen den grausamen und mächtigen Feind gekämpft. Wir haben gemeinsam gehandelt oder wenigstens in Übereinstimmung miteinander, in vielen Regionen der Erde, an Land, zur See und in der Luft.«
    Die Skepsis in ihren Blicken ärgerte ihn. Er musste häufiger in seine Notizen sehen, als er das wollte, und selbst das Stichwort Pearl Harbor brachte nicht die erhoffte Reaktion im Publikum. Vielleicht war es einfach an der Zeit, die Probleme direkt anzusprechen.
    Er löste sich von seinem Manuskript. Er würde improvisieren. »In unseren Beratungen im Januar letzten Jahres waren der Präsident und ich und die erfahrenen Berater uns einig, dass eine Niederlage Japans noch keine Niederlage Deutschlands bedeutet, aber eine Niederlage Deutschlands den Ruin Japans zur Folge hätte.
    Selbstverständlich ist der größte Teil der amerikanischen Streitkräfte momentan im Pazifik eingesetzt. Die Vereinigten Staaten haben die Hauptverantwortung dafür übernommen, den Krieg gegen Japan voranzutreiben und Australien und Neuseeland zu helfen, sich gegen eine japanische Invasion zur Wehr zu setzen.
    Wir hingegen tragen die Hauptlast im Atlantik und im Mittelmeer. Glauben Sie bitte nicht, wir würden irgendetwas zurückhalten, einen Mann, ein Gewehr oder ein Schiff, und stattdessen andere für uns kämpfen lassen. Die Zahl ist hier wenig bekannt, aber mein Land hat mehr als doppelt so viele Verluste an Schiffen ertragen als die Vereinigten Staaten seit Beginn unserer Zusammenarbeit.«
    Immer noch drang er nicht zu ihnen durch. Er schwitzte. Sahen sie nicht, dass es Leben retten würde, wenn sie den Krieg so rasch wie möglich zu Ende brachten, und dass dieses Ende in Europa herbeigeführt werden musste?
    Der einst so legendäre Mut der britischen Soldaten war hier, auf der anderen Seite des Atlantiks, in Vergessenheit geraten. Roosevelt hatte es gestern deutlich durchblicken lassen; Die Amerikaner zweifelten die Schlagkraft der britischen Streitkräfte an.
    Genau dort musste er ansetzen. Und er hatte glücklicherweise vorgestern einen Trumpf in die Hände bekommen. »Sie alle«, sagte er, »haben in der Presse von der Zerstörung der Möhnetalsperre gelesen.«
    Da war es, das ersehnte Aufwachen bei den Zuhörern. Neugier blitzte in den Augen der Abgeordneten auf. Die Senatoren beugten sich nach vorn. Sie tuschelten, nickten sich wissend zu. Jeder hatte die Fotos gesehen in den Zeitungen, die nach dem Bruch der Talsperre

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