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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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zögerlich.
    Oben bot er ihr einen Stuhl an. Sie sollte nicht wie ein reumütiges Schulkind stehen müssen.
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Du bist zu Unrecht eingesperrt worden.«
    Sie setzte sich. »Woher wissen Sie das?«
    »Oksana war hier und hat sich für dich eingesetzt.«
    »Sie glauben ihr? Auch wenn der Wachmann etwas anderes sagt?«
    »Vor dem Wachpersonal kann ich einer Ostarbeiterin unmöglich recht geben. Aber sie war allein hier.«
    »Dann hab ich ihr zu danken. Und Ihnen.«
    Wie gut sie Deutsch sprach. Man hörte zwar einen leichten Akzent heraus, eine leichte Einfärbung der Vokale. Doch sie musste nicht nach Worten suchen. Offenbar hatte Nadjeschka die deutsche Sprache mit enormem Fleiß gelernt, anders war so etwas nicht zu schaffen. Im Unterricht hätte ich mit ihr zwar Ärger gehabt, aber auch viel Freude, dachte er wehmütig. Diese Momente, die er liebte: wenn er noch etwas von den Schülern lernte – mit Nadjeschka hätte es sie gegeben, ohne Zweifel. Wie gern hätte er mit ihr über Thomas Mann debattiert, über die gescheiterte Republik, über den Expressionismus. »Wie kommt’s, dass du so gut Deutsch sprichst?«, fragte er.
    »Das hab ich in der Schule gelernt. Ich wollte immer nach Deutschland reisen und dieses Land kennenlernen. Unter anderen Umständen.«
    »Vielleicht ändern sich die Zeiten eines Tages, und du kannst deine Reise nachholen.«
    »Darf ich Sie was fragen?« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Warum sind wir hier? Ich meine, mit welchem Recht werden Ukrainerinnen und Russinnen gegen ihren Willen ins Deutsche Reich transportiert und zur Arbeit gezwungen?«
    Das hatte ihm gefehlt. Junge Menschen, die noch das Geschehen hinterfragten, die den Sinn in allem suchten. Nadjeschkas Frage weckte seine alten Lebensgeister wieder. »Du willst wissen, wer dafür verantwortlich ist, dass du hier bist und nicht in deinem Heimatland? Das Deutsche Reich funktioniert wie ein Uhrwerk: Jedes Rädchen erledigt eine kleine Aufgabe. Ein Greifkommando fängt euch in der Ukraine ein. Die Reichsbahn ist dafür verantwortlich, euch nach Deutschland zu transportieren. Das örtliche Arbeitsamt verteilt euch auf die Fabriken und Bauernhöfe, und das Gewerbeaufsichtsamt überwacht das Barackenlager. Wenn ihr etwas sabotiert, dann greift die Geheime Staatspolizei ein. Aber niemand von all denen würde sagen, dass er die Verantwortung trägt für den Umstand, dass im Osten Menschen eines sogenannten Sklavenvolks eingefangen werden, damit sie hier dem sogenannten Herrenvolk dienen. Alles geschieht beinahe absichtslos. Die Rüstungsfabriken melden dem Arbeitsamt, dass soundso viele Arbeiter fehlen. Das Arbeitsamt fordert Fremdarbeiter an. Jeder tut nur, was seine Aufgabe ist. Der Eisenbahner, der Soldat, der Verwaltungsbeamte.«
    »Und Sie.«
    »Vorsicht. Du beißt die Hand, die dich füttert.«
    Sie lächelte. »Dann sag ich lieber nichts über die zu geringe Menge des Futters. Sonst gibt’s am Ende keins mehr.«
    Da musste auch er lächeln. Ihre schnelle Auffassungsgabe imponierte ihm, und er mochte den Glanz in ihren Augen. Diese Propagandaschreiber, die vom dummen östlichen Steppenmenschen faselten, sollten mal zu ihm ins Barackenlager kommen!
    »Darf ich trotzdem widersprechen?« Sie bat mit hochgezogenen Augenbrauen um Vergebung. »Jeder Einzelne von diesen Leuten weiß doch genau, was er tut. Sie haben uns in Güterwaggons gesteckt, immer mehr Frauen, bis der letzte Winkel gefüllt war, und haben die Türen verschlossen. Und dann sind sie losgefahren und wussten genau, welche ›Fracht‹ sie transportieren, aber die Türen wurden nie geöffnet, auch wenn der Zug manchmal lange auf der Strecke stand.«
    »Das kann nicht stimmen. Ihr müsst Nahrung bekommen haben.«
    »Zweimal während der wochenlangen Fahrt. Einmal haben uns Ordensschwestern etwas Brot mit Margarine zugesteckt, und einmal gab es heißen Kräutertee. Das war alles.«
    »Die Türen wurden also doch geöffnet.«
    »Ich bin fast gestorben in dieser stickigen Enge, und Sie wollen mir Übertreibung vorwerfen? Ich meine, man sieht schließlich schon am Stacheldrahtzaun und an den Wachtür men, dass wir hier gegen unseren Willen festgehalten werden. Was haben wir verbrochen? Wo ist der Richter, der uns verurteilt hat, und nach welchem Gesetz hat er das getan?«
    Er schnaubte. »Ein Jammer, dass ich dich nicht unterrichten darf. Wer weiß, was aus dir geworden wäre.«
    »Was soll das heißen?«
    Ich bin Lehrer, wollte

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