Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
Hülsen vom Band herüberhievte. Lange würde sie es hier nicht aushalten. Entweder floh sie, oder sie ging zugrunde.
    In der Mittagspause, im Aufenthaltsraum, versuchte Oksana sie zu trösten. »Wenn es schlecht an der Front läuft, werden die Ostarbeiter besonders brutal behandelt. Dass er dich geschlagen hat, zeigt uns, dass die Deutschen bei uns in der Heimat zurückgedrängt werden.«
    »Glaubst du, das sagt man ihnen? Niederlagen geben sie bestimmt nicht in den Nachrichten durch.« Sie stellte ihre Schale beiseite. Die Kohlrabisuppe mit einigen wenigen Kartoffelstücken war aufgegessen, und sie hatte immer noch Hunger. »Du hattest recht. Das Essen reicht nicht.«
    »Ostarbeiter auf dem Land haben’s besser, sie bekommen teilweise das gleiche Essen wie die Deutschen. Und die Bauern mogeln alle, ihnen wurden zwar die Zentrifugen weggenommen, aber jetzt buttern sie heimlich mit dem alten Butterfass. Die haben sogar Fleisch, aus illegalen Schlachtungen.«
    »Wie soll das gehen? Die Tiere werden bestimmt von Inspekteuren gezählt wie in der Ukraine.«
    Oksanas Augen funkelten. »Ganz einfach, wenn ein Schwein wirft, zweigen sie ein kleines Ferkel ab und ziehen es heimlich auf dem Dachboden groß. Und irgendwann in der Nacht schlachten sie es.«
    »Woher weißt du das?«
    »Anfangs, als ich hergekommen bin, war ich auf einem Bauernhof. Ich hatte solche Sehnsucht nach meinen Kindern, dass ich zu fliehen versuchte. Sie haben mich eingefangen und zur Strafe hierher versetzt.«
    »Du hast Kinder?« Nadjeschka schluckte.
    »Eine kleine Tochter und drei Söhne. Ich hab die vier seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Aber es ist besser so. Die Frau meines Bruders kümmert sich um die Kleinen. Wenn sie hier wären, im Barackenlager, den ganzen Tag alleine – das wünschte ich ihnen nicht. Die Kinder bei uns in der Baracke können einem nur leidtun.«
    »Wo gibt es Kinder im Lager?«
    »In Agathas Zimmer zum Beispiel leben zwei Mädchen und ein vierjähriger Junge. Sind mit ihren Müttern hergekommen. Sie wachsen hier auf, umgeben von Stacheldraht. Den ganzen Tag hocken sie im Zimmer und warten, dass ihre Mutter heimkommt. Es gibt keine Schule für sie, keine Spielsachen. Da geht es meinen Kleinen in der Ukraine besser.«
    Nadjeschka sagte nichts. Hier war die Gefahr zu groß, belauscht zu werden. Aber sie würde Oksana mit sich nehmen, wenn sie floh. »War die deutsche Bauernfamilie gut zu dir?«
    »Ich saß mit ihnen am Tisch zum Essen. Sie haben mir sogar diesen Rock geschenkt.« Sie strich über den braunen Stoff.
    Dann werden die Bauern uns helfen, dachte Nadjeschka, wenn wir Nahrung brauchen für den weiten Weg zurück in die Heimat.
    Er befürchtete, dass Eva zurückkehren könnte, verheult und reumütig, und ihn noch einmal bitten würde, sie zurückzunehmen. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sie zaghaft an die Tür klopfte und sie dann aufschloss und dass sie ihn mit ihrer Reue umstimmte. Seine Sehnsucht nach der Nähe einer Frau, nach Zärtlichkeit und Wärme würde ihn alle Vorsicht vergessen lassen, er wusste es.
    Den Nachmittag verdämmerte er über dem Roman Im Westen nichts Neues , er las und blätterte, blieb an einzelnen Szenen hängen. Ging es nicht so ähnlich zu, gerade jetzt, in Russland? Giftgas wurde noch nicht eingesetzt, aber die Soldaten hingen doch genauso in ihren Schützengräben, feuerten Maschinengewehrsalven auf die anstürmenden Gegner, wurden von explodierenden Artilleriegeschossen erwischt, verbluteten im Lazarett. Vor zehn Jahren hatten die Nazis das Buch und den Film verboten. Allzu deutlich sprach es von der Sinnlosigkeit des Krieges, von den leichenbedeckten Schlachtfeldern. Um den Roman loszuwerden, behaupteten die Nazis, Remarque sei Jude und hieße eigentlich Kramer, man müsse seinen Namen bloß rückwärts lesen. Das war ihr eigenes Giftgas, das sie wieder und wieder geschickt einsetzten: Sie brachten Leute ins Gerede, und war das Gerücht erst einmal in der Welt, spielte es keine Rolle mehr, ob es der Wahrheit entsprach – es lähmte und tötete die Argumente der Nazigegner.
    Was, wenn Eva dem Blockwart davon erzählt hatte, wie krank er war, und der alte Wiese nutzte die Gelegenheit, um scheinheilig nach ihm zu sehen, während er in Wahrheit die Wohnung inspizierte? Er würde das verbotene Buch sehen und nicht nur dieses, auch Onkel Toms Hütte. Französische und russische Autoren, britische Feindliteratur von H. G. Wells, Robert Louis Stevenson, Charles Dickens,

Weitere Kostenlose Bücher