Nachtauge
ist, seit nicht mehr Motorräder hergestellt werden, sondern die Arbeiter Fallschirme fürs Heer nähen?«
»Davon habe ich gehört.« Der Pfarrer nahm die Hände hinter den Rücken.
Ein klares Anzeichen, oft taten das Delinquenten, um zu verbergen, dass sie zitterten. Axel seufzte. »Ich merk doch, das Herz ist Ihnen schwer vor lauter Geheimniskrämerei. Sie möchten endlich frei und offen reden.« Er wandte sich an Hans. »Wir nehmen ihn mit zur Steinwache.«
12
Bei jedem Schritt drückten die zwei Blechlöffel gegen ihren Bauch. Nadjeschka sah an sich herunter und prüfte, ob sie verräterische Beulen in der Jacke formten. Aber der Stoff war dick genug, um die gestohlenen Löffel zu verbergen.
Es war kühl an diesem Morgen. Nebelschwaden hingen über dem Möhneufer. Dennoch sangen die Amseln um die Wette, sie zwitscherten und flöteten, als würde ein herrlicher Frühlingstag anbrechen, als gäbe es keinen Krieg und keine Wachposten mit Maschinengewehren, die eine lange Reihe von Frauen zur Fabrik brachten wie Sklaven.
Ihr Rücken schmerzte. Jeder von Plögers Schlägen hatte eine lange blaue Strieme hinterlassen, sodass Oksana die Wunde sogleich entdeckte. Erst versuchte sie, ihr Erschrecken zu verheimlichen und Nadjeschka zu beruhigen, aber die bestürzten Gesichter der anderen Frauen sprachen eine unmissverständliche Sprache.
Sie war hier genauso ein Teil des Krieges wie zu Hause, wo die Verwandten unter dem Hin-und-her-Wogen der Front litten, wo sie das Donnern der Geschütze hörten. Im Großdeutschen Reich konnte sie kämpfen wie die Partisanen in der Ukraine, die den Deutschen auflauerten und aus dem Versteck auf sie schossen.
Als sie die Fabrikhalle betraten, musterte Nadjeschka die Männer vom Werkschutz. Sie sahen aus wie gewöhnliche Familienväter, wie ein Teil der Arbeiterschaft: grobe Hände, breitschultrig, müde Augen. Die Männer wechselten einige Worte mit Plöger und den Wehrmachtssoldaten. Nadjeschka nutzte die Gelegenheit, um sich ans Ende der Schlange zu mogeln.
Oksana warf ihr einen verwunderten Blick zu, blieb aber, wo sie war.
»Alle an ihre Plätze«, befahl der Meister. »Wir sind bereits acht Minuten in Verzug, die Mittagspause wird gekürzt. Gestern lagen wir hinter dem Tagessoll, das wird uns heute nicht noch einmal passieren!«
Sie hatte vorgehabt, im Vorbeigehen einen der Löffel in das Getriebe einer Maschine fallen zu lassen. Doch unter den Augen des Meisters war das unmöglich. Selbst wenn er es nicht sah, er würde hören, wie der Löffel hineinklimperte – solange die Maschinen noch nicht liefen und mit ihrem Stampfen alles übertönten, war es zu riskant.
Enttäuscht ging sie an ihren Platz. Der Meister pfiff laut, und das Förderband lief an. Es brachte in endloser Folge Geschosshülsen. Nadjeschka hob die ersten fünf hinüber zur Pressmaschine. Fünfundzwanzig Kilo, das war, als würde sie ihren kleinen Bruder anheben, den ganzen Tag lang, ihn immer wieder hochheben und hinübersetzen. Sie füllte die Hülsen mit Schwefel.
Plöger schlenderte heran. »Das muss schneller gehen, Mädchen.«
Sie hob die nächsten Hülsen zur Maschine.
»Zack, rüberheben, zack, befüllen, zack, Presse betätigen, Zack-zack-zack!«
Zack-zack-zack, dachte sie, zack-zack-zack. Und du stehst dumm herum und gibst Kommandos. Warum arbeitest du nicht?
Seit jeher hasste sie es, Befehle zu erhalten. Wenn in der Schule die Lehrerin gesagt hatte, nehmt eure Hefte heraus, wartete sie aus Protest noch eine halbe Minute, bis sie, sozusagen aus eigenem Entschluss, ihr Heft hervorholte, um sich das Diktierte aufzuschreiben. Die ersten zwei Sätze hatte sie dann von ihrer Nachbarin abschreiben müssen, aber das war ihr egal gewesen. Musste die Lehrerin jeden einzelnen Handgriff anordnen? Konnte sie nicht einfach sagen: Bitte schreibt euch Folgendes auf? Dann hätte sie schon selbstständig ihr Heft herausgenommen.
Ebenso unliebsam fand sie es, wenn die Mutter ihr zusätzliche schmutzige Teller in die Schüssel legte, während sie Geschirr spülte. Sie wollte sich die Teller selbst holen, sie brauchte niemanden, der ihr die Arbeit vorsetzte.
Und jetzt machte sich Plöger einen Sport daraus, ihr immer genau das zu befehlen, was sie sowieso gerade tat.
»Zack, rüberheben, zack, befüllen, zack, Presse betätigen.«
Ihr werdet euch noch wundern, dachte sie. Die Löffel am Bauch zu spüren, machte die Arbeit für sie erträglicher, weil sie sich den Ärger der Deutschen über einen Akt der
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