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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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zufriedengeben. Vielleicht konnte sie nicht einmal etwas dafür. In diesem Moment glaubte sie, ihm auf ewig treu sein zu können, und ihre Entschlossenheit, ihr Wille rührte ihn. Wie furchtbar, dass er es besser wusste, dass er sie zu gut kannte, um sich erneut auf sie einzulassen. Es kam einfach nicht infrage. Seine Seele war einmal zerfetzt worden. Ein zweites Mal passierte ihm das nicht.
    »Ich verstehe schon. Du willst mich nicht mehr.« Sie stand auf.
    Die Tränen zu sehen, die ihr über das Gesicht rannen, sprengte den Panzer, den er um sein Herz gelegt hatte, um sich zu schützen. War es nicht doch möglich, dass sie miteinander glücklich wurden?
    »Ich werde es mein Leben lang bereuen, Georg. Nur, dass du das weißt. Ich bereu es jeden Tag, und das wird nie aufhören. Wie konnte ich nur so dumm sein, dich zu verlieren.« Sie ging in den Flur, zog ihre Jacke an. Er hörte, wie sie die Wohnungstür öffnete. Leise sagte sie: »Gute Besserung, Georg.« Dann schloss sich sanft die Tür.
    Warum besangen die Dichter die Liebe, warum feierten die Maler sie in leuchtenden Farben, wenn sie in Wirklichkeit ein Schmerzensherd war? An ihrem heißen, flackernden Feuer konnte man sich leicht verbrennen, und je näher man sich ihr wagte, in der Hoffnung, den guten, sanften Kern zu erreichen, desto ärger wurden die Brandblasen.

11
    Rasender Schmerz jagte durch Nadjeschkas Arm. Sie war zu nahe an eine der Hülsen geraten. Schon kam die Ladung ins Schwanken. Mit lautem Scheppern fielen die Hülsen zu Boden. Sie sprang zur Seite, um keines von den heißen Höllenstücken an die Beine zu bekommen. Das Förderband hielt.
    Plöger stürmte heran. »Russenschlampe!« Er schlug ihr einen Stock auf den Rücken. »Bei mir erlaubst du dir solche Unachtsamkeiten nicht. Wegen dir steht jetzt in der ganzen Halle das Band still!« Wieder schlug er zu.
    »Ich kann nicht mehr«, sagte sie und duckte sich, »ich brauch eine Pause. Bitte, die Schwefelwolke, ich konnte nichts mehr sehen.«
    »Dir bringe ich’s bei! Die ganze Fabrik aufzuhalten, was bildest du dir ein?« Er prügelte auf sie ein.
    »Ich kenne mich nicht aus, es ist mein zweiter Tag.«
    Ein besonders harter Schlag sauste nieder. »Du kannst einfach nicht die Klappe halten, was? Für wen hältst du dich?«
    Sie fiel auf alle viere nieder, kassierte einen weiteren Hieb.
    »Ich schick dich ins KZ für deine Bummelei! Dann guckst du dich um.«
    Der Meister eilte herbei. »Das reicht jetzt. Lass sie aufstehen und weiterarbeiten.«
    Endlich ließ ihr Peiniger von ihr ab. »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden«, sagte er. »Ihr Steppenmenschen seid Jammerlappen. Jeder wird heutzutage hin und her geschickt, glaubst du, wir Deutschen nicht? Wir müssen in den Reichs arbeitsdienst oder ins Pflichtjahr. Also hab dich nicht so, wenn du mal ein bisschen arbeiten musst. Los jetzt, hoch mit dir!«
    Sie konnte nicht aufstehen. Ihr Körper fühlte sich an, als seien sämtliche Knochen gebrochen. Die anderen sahen mitleidig zu ihr herüber.
    Der Meister pfiff laut und reckte den Arm in die Höhe. Schon rollte das Förderband wieder. Nadjeschka musste sich aufrappeln. Sie wankte zwischen die langsam auskühlenden Hülsen, die am Boden tickten und qualmten, nahm die nächste Ladung vom Band und befüllte sie.
    Die Wut verlieh ihr neue Kraft. Sie haben kein Recht, uns so zu behandeln, dachte sie. Warum wehrte sich niemand? Warum erfüllte in der großen Halle jeder brav seine Aufgabe, als sei es selbstverständlich, den Deutschen bei der Herstellung der Waffen zu helfen, mit denen sie dann ihre russischen und ukrainischen Landsleute umbrachten? Kein Wunder, dass die Deutschen alle Völker unterjochten, wenn niemand es wagte, ihnen Widerstand zu leisten.
    Während die aufrührerischen Gedanken sie stärkten, saß in ihr zugleich ein ängstliches kleines Kind, das fürchtete, Plöger könnte sie gerade im Blick haben und ihr eine Nachlässigkeit vorwerfen, um sie erneut zu prügeln. Du darfst nicht auffallen, wimmerte es. Halt den Kopf unten! Sie tun dir weh, ja, sie tun dir weh.
    Die Mischung aus Schmerz, Wut und Angst zermürbte sie. Um sie herum stampfte und zischte es, Maschinen klapperten, der Krieg lief ungehindert, er tötete und tötete, und sie fütterte die eiserne Bestie mit neuen Geschossen und musste versuchen zu überleben.
    Gegen Mittag schnaufte sie nur noch. Auf ihrer Stirn klebte eine schmierige Mischung aus Schwefel und Schweiß, und ihre Arme zitterten jedes Mal, wenn sie neue

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