Nachtauge
gepickt. Eine Zehe hatte das Küken schon verloren, bevor Großvater es gerettet hat. Ich hab es unter die Bettdecke genommen und verhätschelt. Den ganzen Tag habe ich mit ihm gespielt.«
Ihre blauen Augen leuchteten. »Wollte es nicht weglaufen?«
»Im Gegenteil, es wollte immer zu mir! Weich war es, und warm, und es piepte herrlich, wenn es Hunger hatte. Ich habe es mit Weizenkörnern gefüttert. Als ich nach einer Woche endlich gesund war und wieder aufstehen durfte, habe ich Rudi zu den anderen Küken in Großvaters Garten gebracht. Die verwundete Kralle war verheilt, auch wenn die Zehe natürlich nicht nachgewachsen ist.«
Sie blies ihren kühlenden Atem über die Teetasse. »Das hast du mir nie erzählt.«
»Von da an kam das Küken jedes Mal zu mir, sobald ich Großvaters Garten betrat. Es ist mir auf die ausgestreckte Hand gesprungen, und ich habe es mir auf die Schulter gesetzt und es herumgetragen. Rudi ist ein prächtiger Hahn geworden. Ich war immer sehr stolz, wenn ich mit ihm auf der Schulter durch den Garten ging. Ich hab Rudi geliebt, wie andere ihren Hund lieben. Und auch verhindert, dass er geschlachtet wird, bis ein jüngerer, nachgewachsener Hahn ihn eines Tages besiegt hat. Da hat er sich nicht mehr in den Stall reingetraut, er saß zerzaust und zusammengekauert draußen in der Kälte. Kurz darauf ist er gestorben, aus Kummer.«
Sie reichte ihm die Tasse. »Versuch’s mal. Aber trink vorsichtig.«
Er trank einige Schlucke Salbeitee. Wie liebevoll Eva jetzt war. Sie versuchte, es wiedergutzumachen. Aber es war vorbei mit ihnen. Zwar begehrte er sie immer noch. Aber wie sollte er ihr je wieder vertrauen? Sein Herz würde immer vor ihr zurückschrecken.
Sie sah plötzlich ängstlich aus, als ahnte sie seine Gedanken und fürchtete, hinausgeworfen zu werden. »Wie geht es Großvater?«, fragte sie rasch.
»Hab ihn lange nicht besucht.«
»Er weiß noch nichts von deiner neuen Anstellung?«
»Natürlich weiß er es. Allerdings denkt er, es sei nur kurzfristig. Er meint, ich mache das übergangsweise wegen einer Notlage in der Lagerverwaltung, und kehre bald in die Schule zurück. Du verstehst das nicht. Großvater war der beste Lehrer, den man sich vorstellen kann. Er ist mit den Schülern rausgegangen auf die Möhnewiesen und konnte jeden Grashalm beim Namen nennen. Er hat mit ihnen Fische dressiert, hat für die Schule einen Bienenstock angeschafft. Dutzende von seinen Schülern haben wegen ihm später Biologie studiert.«
»Ich weiß. Du wolltest immer werden wie er.«
»Als kleiner Junge hab ich das schon gewusst. Und er ist so stolz darauf, dass sein Lieblingsenkel Lehrer geworden ist.«
»Gerade im letzten halben Jahr haben sie viele Lehrer eingezogen. Sei froh, dass du dir rechtzeitig einen kriegswichtigen Posten an Land gezogen hast. Sonst wärst du jetzt an der Front.« Sie stand auf, trat ans Fenster und zog die Vorhänge zu.
»Bitte, lass sie auf.«
»Du musst jetzt schlafen. Ich kenne dich doch. Wenn es hell ist, holst du dir gleich ein Buch und liest.« Sie kam zurück zum Bett. Auf dem Weg fiel ein Sonnenstrahl, der zwischen den Gardinen hindurchblitzte, auf ihr blondes Haar. Sie setzte sich auf die Bettkante und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. »Mein guter Georg.«
Er schluckte. »Es wird nichts mehr mit uns«, sagte er leise. Da, er hatte es herausgebracht.
»Ich weiß.« Sie lächelte tapfer.
Warum war sie dann hier, wenn sie es wusste? Frauen waren undurchschaubar.
Nach einer Weile sagte sie, ebenso leise wie er zuvor: »Kannst du’s mir immer noch nicht vergeben?«
»Ich hab dir längst verziehen.«
»Und warum willst du mich dann nicht zurücknehmen? Es ist wirklich vorbei mit ihm. Ich habe einen Fehler gemacht, ich hätte bei dir bleiben sollen. Dass ich dein Vertrauen so sehr enttäuscht habe, tut mir unendlich leid, bitte, glaub mir das.«
Er schwieg. Sein Kopf war leer.
»Jedem passiert mal so etwas im Leben. Gib mir die Gelegenheit, dir zu beweisen, dass ich treu sein kann. Ich werde dir treu sein bis ans Lebensende, Georg.«
»Tut mir leid. Es geht nicht.«
»Zählt denn das schöne Jahr, das wir hatten, gar nichts? Kannst du nicht auch an die vielen Sachen denken, die ich richtig gemacht habe?«
Er sah zum Fenster hinüber. Sie hatte recht mit einem Teil von dem, was sie sagte. Aber er ahnte, dass sie ihn wieder verletzen würde. Dass sie es zu sehr genoss, von Männern geliebt zu werden. Sie würde sich nie mit einem einzigen
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