Nachtauge
Rudyard Kipling. »Die Literatur ist Kriegsgebiet«, schmetterten die Nazis. Die Frage, was man lesen durfte und was nicht, nahmen sie überaus ernst. Georg ging ins Wohnzimmer und zog die Bücher der verfemten Autoren aus dem Regal. Er schleppte sie ins Schlafzimmer und versteckte sie hinter den Pullovern im Kleiderschrank. Bei einer gründlichen Haussuchung würde die Gestapo alles entdecken, aber Blockwart Wiese fielen sie, falls er hereinkam, wenigstens nicht sofort ins Auge.
Was war das für eine Zeit, in der man Bücher verstecken musste! Und verdächtig war, weil man am Hitlergeburtstag keine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster hängte! In der es Aufpasser gab, die kontrollierten, was man im Radio hörte!
Müde ließ er sich wieder ins Bett fallen. Er schwitzte und fror zugleich. In seinem Kopf dröhnte es, ein Schwarm Hummeln drückte von innen gegen die Stirn. Er schleppte sich noch einmal in die Küche und trank ein Glas Wasser. Dann legte er sich hin und schlief ein.
Immer wieder wachte er in der Nacht auf, schweißgebadet, und wälzte sich hin und her. In der ersten Morgendämmerung befiel ihn ein Fiebertraum. Er träumte von Eva. Sie hatte sich zu ihm ins Bett gelegt und bedeckte sein Gesicht mit kühlenden Küssen. Unter ihrem dünnen Seidenhemd konnte er ihre Brust sehen, und obwohl es sich verboten anfühlte, fasste er danach. Sie gluckste vor Vergnügen. Er konnte nicht mehr an sich halten, legte sich auf sie, küsste sie. Da sah er plötzlich, dass es nicht Eva war. Die hohen Wangenknochen, die jungen grünen Augen. Er küsste Nadjeschka! Ruhig sah sie ihn an. Ich weiß, dass du mich liebst, sagten ihre Augen. Es ist gut.
Er wachte auf, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien. Blinzelnd sah er zum Fenster hin. In seinem Bauch kitzelte es. Auch wenn es nur ein Traum gewesen war, er konnte Nadjeschkas Lippen noch auf seinen spüren und sich an ihren liebevollen Blick erinnern.
Er richtete sich auf, schlüpfte in die Pantoffeln und wankte in den Flur. Mit pochenden Kopfschmerzen rief er im Lager an und erklärte, dass er immer noch krank sei.
Als er im Bett lag, um den Tag zu verschlafen und sich endgültig zu kurieren, dachte er, so fest er konnte, an Nadjeschka in der Hoffnung, aufs Neue von ihr zu träumen. Es weiß ja niemand davon, beruhigte er sich, es sind bloß närrische Gedanken.
Über die ganze Straße verteilt lag Papier. Spaziergänger, die ihn und Hans sahen, ignorierten die Flugblätter, sie wagten nicht einmal, auf sie draufzutreten, sondern wichen ihnen aus, als könnten sie bei einer Berührung explodieren. »Na herrlich«, sagte er. »Wir suchen nach einem Mann, der briefmarkengroße Zettelchen in Streichholzschachteln versteckt, und währenddes sen lässt der Feind Flugblätter über die ganze Stadt regnen.«
»Der Partisan könnte das Flugzeug hierhergelotst haben«, schlug Hans vor. »Weil er meint, die Bevölkerung ist empfänglich dafür. Er wird den Feinden weisgemacht haben, dass man in Neheim bereits aufrührerisch denkt.«
»Unsinn.«
»Und warum hat die Flak das Flugzeug dann nicht erwischt? Das müssen wir klären. Der Pilot scheint genau gewusst zu haben, wo unsere Geschütze stehen.«
»Das wissen die Engländer durch die Luftaufklärung. Die machen doch ständig Fotos von hoch fliegenden Flugzeugen aus und gucken dann mit der Lupe auf den vergrößerten Bildern, ob sie eine Flak erkennen.«
Ein Kind radelte heran. Es bremste, stieg ab und lehnte sein Fahrrad gegen die Hauswand. Sofort begann es, die Flugblätter einzusammeln.
Axel lobte es: »Das machst du gut, dass du die Blätter einsammelst. Wir wollen nicht, dass sie in falsche Hände geraten! Am besten gibst du sie bei der Polizei ab, Kleiner. Wenn du Glück hast, bekommst du sogar eine Belohnung dafür, du wirst sehen.«
Hans wartete, bis der Junge sich beim Sammeln etwas entfernt hatte, und raunte: »Wer ist das? Haben Sie den hier schon mal gesehen?«
»Ich kenne nicht jeden Lausbuben der Stadt, da muss ich dich enttäuschen.«
»Was will er wirklich mit den Flugblättern? Er hatte ein Fahrrad dabei. Ist er gezielt zur Abwurfstelle geradelt, um die Blätter vor der Polizei zu retten?«
»Zum Donnerwetter, Hans, hör endlich damit auf, überall Gespenster zu sehen! Willst du das Kind einlochen?«
»Nein. Aber an die Hintermänner müssen wir rankommen.«
»Hintermänner … Die Hintermänner der Flugblattaktion sitzen in England. Wir kümmern uns nicht um feindliche Flugzeuge, das ist nicht unsere
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