Nachtauge
Güte, er hinkte dem Zeitplan hinterher. Seit er Lagerführer geworden war, hatte er nicht ein einziges Mal den Ausmarsch der Kolonnen verpasst. Er musste doch präsent sein und auf die Pünktlichkeit und die Anwesenheit der Frauen achten! Hastig zog er sich das Nachthemd aus.
Vor dem Kleiderschrank packte ihn ein leichter Schwindel. Er musste sich aufs Bett setzen. Ihm war, als würde ein Hammer von innen gegen seine Schädelwände klopfen. Was würde er für ein jämmerliches Bild abgeben! Vielleicht sollte er heute besser zu Hause bleiben. Er hasste es, nicht auf dem Posten zu sein, seine Pflicht nicht zu erfüllen. Aber als wandelnde Vogelscheuche unterminierte er seine Autorität, das wäre noch schlimmer.
Ächzend zog er das Nachthemd wieder an, schwankte in den Flur und nahm den Telefonhörer ab. Er wählte die vertraute Nummer. Vermutlich stellten sie längst die Kolonnen auf, und nun rief das Klingeln den Wachmann zurück in die Wachbaracke. Wegen ihm geriet alles durcheinander.
»Plöger hier«, meldete sich eine Stimme.
»Ja, Georg Hartmann. Ich muss mich heute krankmelden. Schicken Sie die Kolonnen bitte pünktlich auf den Weg.«
»Geht in Ordnung, Herr Lagerführer.«
Er legte auf und schlich ins Bad. Er schluckte eine Eu-Med gegen die Kopfschmerzen. Dann kroch er wieder ins Bett. Sich auf der Matratze auszustrecken tat gut. Er bettete seinen Kopf auf das kühle Kissen, langte nach dem Taschentuch, schnäuzte sich noch mal und schlief ein.
Er rannte durch das Schulgebäude und wusste nicht mehr, in welchem Klassenraum er zu unterrichten hatte. Hinter jeder Tür, die er öffnete, starrten ihn fünfundzwanzig fremde Kinder an, und irgendein Kollege runzelte missbilligend die Stirn. Immer wieder klingelte es, als wollte ihn das Schulhaus drängen, endlich seinen Unterricht zu beginnen, doch in keinem Stockwerk fand er seine Klasse.
Da rührte eine kühle Hand an seine Stirn. Er wachte auf. Ein schmales Frauengesicht beugte sich über ihn, es sah besorgt aus. »Du glühst ja, Georg! Wir sollten dich zum Arzt bringen.« Die Hand streichelte ihm voller Fürsorge das Gesicht.
Er richtete sich auf. Eva! »Wie … Wie bist du hier reingekommen?«
»Ich hab geklingelt und geklingelt, aber du hast nicht aufgemacht. Da hab ich beim Blockwart nachgefragt. Er hat ge sagt, dass du zu Hause bist. Ich hab mir große Sorgen gemacht. Herr Wiese war so freundlich, mir aufzuschließen.«
Eva mit ihren Katzenaugen, dem zarten Mund, den blonden glatten Haaren, nach denen sich die Männer umdrehten. In Neheim hatte sie viele Verehrer. Es war wochen-lang Stadtgespräch gewesen, dass sie sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte. »Ich glaub nicht, dass ich einen Arzt brauche.«
Sie setzte sich aufs Bett. Lächelte. »Wundert mich kein bisschen, dass du das sagst. Du brauchst nie Hilfe von irgendwem, stimmt’s?«
»Du weißt doch, wie das ist. Die Privatpatienten werden bevorzugt aufgerufen, und uns Kassenpatienten lassen sie eine Nummer nehmen. Dann zieh ich die Vierundachtzig oder die Sechsundneunzig und darf drei Stunden im Gedränge des Wartezimmers aushalten, bis ich endlich an die Reihe komme, damit mir der Arzt sagen kann, dass ich erkältet bin. Nein danke.«
»Wenn du dich so gegen einen Arztbesuch wehren kannst, muss es dir schon besser gehen. Ich mach dir einen Tee, ja?« Sie stand auf.
Er sah ihr nach, als sie das Zimmer verließ. Das Wollkleid betonte ihre Kurven und passte sich den geschmeidigen Bewegungen an.
Aus der Küche hörte er das Pfeifen des Kessels. Wie gut das tat, wenn man das Gefühl hatte, dass sich jemand liebevoll um einen kümmerte. Trotzdem, er musste sie rauswerfen, es ging nicht.
Eva brachte auf dem Tablett die Teekanne und eine Tasse. Es roch nach Salbei. Er sagte: »Ich war seit der Kindheit nicht mehr erkältet.«
Sie setzte das Tablett auf dem Nachttisch ab. »Stimmt gar nicht. Denk an letzten Winter.«
»Das war was anderes.«
»Du hast wochenlang gehustet.«
»Siehst du, und diesmal huste ich überhaupt nicht. Es ist nur der Kopf, irgendwie.«
Sie goss ihm eine Tasse Tee ein, hob die Tasse an ihre Lippen und blies sanft darauf. »Ist noch zu heiß, warte.«
»Als Kind war ich einmal so erkältet, dass ich hohes Fieber bekam und tagelang im Bett liegen musste. Ich hielt das kaum aus. Um mich zu trösten, brachte Großvater mir in einem Körbchen ein Eintagsküken mit, es trug einen Verband um die Kralle, bei der Fütterung hatten die anderen Küken immer nach der Wunde
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