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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Hemd war im Nu durchnässt.
    »Freche Range!«, schimpfte er, aber er schüttelte sie nicht ab, es gefiel ihm, ihre Hand zu spüren. »Und wirklich, sag du zu mir. Ich bin Georg.«
    »Georg«, sagte sie leise.
    Wie behutsam sie seinen Namen aussprach! Sein Herz machte vor Freude einen Satz.
    Sie spazierten am Ufer entlang, bis sie nach Neheim hineingelangten. Überall auf den Straßen flanierten Pärchen und Familien. Neheim feierte das Osterwochende. Die Männer warfen Nadjeschka neugierige Blicke zu.
    »Unerhört«, sagte er, »die gaffen dich an, als wärst du eine Zirkusattraktion!«
    »Werden wir vielleicht durchschaut?« Sie riss die Augen auf.
    »Nein, das ist es nicht. Dein Aussehen gefällt ihnen.«
    Erleichtert atmete sie aus. »Wenn ich meine Ostarbeiterinnenjacke trage, gefalle ich ihnen nicht mehr, glauben Sie mir.«
    Er zeigte ihr den Kolonialwarenladen: »Früher gab es hier zu Ostern schöne grüne Holzwolle, darin saßen Schokoladenosterhasen, kleine und große, und die bunten Ostereier waren eine Augenweide! Jetzt gibt es selbst Zucker nur noch auf Karten, und Puddingpulver ist nach jeder Lieferung binnen Stunden ausverkauft.«
    Sie sah durch die Schaufensterscheibe ins Innere des Ladens. »Aber die Regale sind doch voll! In der Ukraine kriegt man in den Läden viel weniger.«
    »Siehst du das Glas auf der Theke? Als Kind hab ich regelmäßig mein Taschengeld hiergelassen. Die roten Bonbons im Glas habe ich geliebt. Oft klebten sie aneinander, man musste sie Stück für Stück abbrechen.«
    »Was ist das, Taschengeld?«
    Machte sie Scherze? Aber sie sah ihn ernst an. Wahrscheinlich kannte sie nur das Wort nicht. »Das ist das Geld, das einem die Eltern geben. Wenn man noch ein Kind ist. Jede Woche hab ich ein Fünfzig-Pfennig-Stück bekommen.«
    »Taschengeld.« Sie lächelte. »Ich kann mir Sie gut als kleinen Jungen vorstellen.«
    »Du sollst du sagen.«
    »Verzeihung. Was musstest du dafür tun? Für das Taschengeld, meine ich?«
    »Nichts. Na hör mal!«
    »Du musstest nicht arbeiten?«
    »Nein. Ich bin zur Schule gegangen.«
    Sie seufzte. »Deutschland ist ein reiches Land. Bei uns müssen alle Kinder arbeiten, aber Geld bekommen sie nicht dafür, höchstens etwas zu essen oder mal ein Stück Stoff für ein Kleid.«
    Sie spazierten weiter, am Kaufhaus Adolf Meyer vorüber und am Fahrradgeschäft. »Was musstest du machen?«, fragte er.
    »Vor der Schule musste ich Seidenraupen füttern. Im Frühjahr bekam ich die Eier zugeteilt. Ich hab sie auf fein geschnittene Maulbeerblättchen gelegt, und ein paar Wochen später waren es schon Raupen. Im Sommer brauchten sie Maulbeerbüschel, und am Ende ganze Zweige von den Maulbeerbäumen. Die Raupen fraßen und fraßen. Ruhiger ist es erst geworden, sobald sie angefangen haben, sich einzuspinnen. Die Kokons hab ich dann abgegeben, und das Gewicht wurde in eine Liste eingetragen in der Kolchose, und meine Familie bekam etwas dafür.«
    »Das hätte mir auch Spaß gemacht, Seidenraupen zu züchten.«
    »Es war auf jeden Fall besser, als Schafe zu hüten. Das haben andere Kinder gemacht, und die Schafe sind oft ausgebüxt, dann mussten sie suchen gehen. Als ich elf geworden bin, war auch Schluss mit den Seidenraupen, mit elf habe ich dann in der Kolchose auf dem Feld gearbeitet. Wir haben bei Stepove Maisfelder und Sonnenblumenfelder. Im Herbst wird der Mais gebrochen und die Sonnenblumen werden geschnitten. Die Sonnenblumen muss man von Hand ausklopfen und die Maiskolben schälen. Alle Kolben werden auf dem Dorf platz auf einen Haufen geworfen, um dann bearbeitet zu werden.«
    »Also bist du doch ein Steppenmensch«, neckte er sie.
    »Nein. Mein größter Wunsch war immer, nicht in der Kolchose arbeiten zu müssen. Deshalb hab ich die Mittelschule besucht, um später studieren zu können und Lehrerin zu werden. Die meisten machen nur vier Jahre Volksschule und bleiben in der Landwirtschaft, aber ich wollte was anderes, für mich ist die Landwirtschaft nichts.«
    »Du wolltest … Lehrerin werden?« Er musste schlucken.
    »Ja. Was glaubst du, warum ich so fleißig Deutsch gelernt habe?« Sie sah ihn an. »Warum guckst du so seltsam?«
    »Ich bin Lehrer.«
    »Nicht Lageraufseher?«
    »Ein Verwandter hat mir diese Stelle als Lagerleiter verschafft. Ich wollte nicht an die Front, will keine Menschen erschießen.« Er rutschte immer tiefer in diese Sache hinein, wenn er ihr so viel von sich preisgab. Dieser eine Spaziergang, dabei blieb es! Danach musste sie

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