Nachtauge
gefällt dir der Name Josefine?«
Etwas erwachte in ihren Augen, sie funkelten vor verspielter Freude. »Ich mag ihn.«
»Das Wetter ist traumhaft. Komm, ich zeige dir die Gegend.«
Als sie das Lager verließen, waren ihre Bewegungen angespannt und steif. Sie redeten über Dostojewski und Schewtschenko, über die Auswahl der Bücher, die er ihnen gebracht hatte. Aber kaum waren sie außer Sichtweite der Wachtürme, fing sie an, hundert Fragen zu stellen. Für alles und jedes wollte sie das passende Wort wissen.
Er benannte ihr Brombeeren, Holunder und Weiden am Wegrand, Blaumeisen, die durch die Äste hüpften, Zaunkönige und Rotkehlchen. Sie spazierten entlang der Möhne, Lagerleiter und Gefangene, verwandelt in Lehrer und Schülerin, oder aber, so schien es ihm vielmehr, in König und Königin. Zur Linken war der Hochwald, wo unter den Eichen und Buchen Abertausende von weißen Windröschen aufleuchteten.
Nadjeschkas Staunen und ihre Freude an Kleinigkeiten steckten ihn an. Auch er sah plötzlich die Welt mit neuen Augen. So oft schon war er den Möhneweg entlangspaziert, doch schon lange hatte er nicht mehr einen solchen Frühlingszauber erlebt.
»Schauen Sie«, rief sie, »die Enten zeigen ihren Jungen das … wie man …«
»Das Gründeln«, sagte er.
Tatsächlich tauchten die Märzenten ihre Köpfe ins Wasser, kurz nur, und animierten ihre Jungen dadurch, es nachzuahmen. Die Kleinen paddelten unter Wasser mit den Beinchen, um nicht von der Strömung mitgezogen zu werden, und probierten willig das Gründeln aus, indem sie von Zeit zu Zeit ihre Köpfchen in die Wellen steckten.
Auf einem Baum schillerten Käfer und andere Insekten in grünen und bronzenen Farbtönen. Dicke Brummer surrten von Blüte zu Blüte. »Julikäfer«, sagte er. Einer flog auf ihn zu, er sah, wie der Käfer beim Fliegen den Kopf vorstreckte, als sei er kurzsichtig und müsse sich mühsam orientieren.
Sie streckte ihre Hand aus, und tatsächlich landete ein Käfer darauf, und dann ein zweiter. »Das kitzelt!« Sie schüttelte die Käfer ab.
Ein paar Meter weiter kauerte sie sich ins Gras. »Ein Pilz. Wie nennen Sie ihn?«
»Da sind noch mehr, schau! Die müssen erst letzte Nacht so groß gewachsen sein, sonst hätte sie längst jemand gepflückt. Champignons. Die Partei verlangt, dass wir sie nicht mehr so nennen, weil es französisch ist. Weiden-Egerling heißen sie jetzt.«
Sie stand auf und drehte sich zu ihm. »Sie wissen gar nicht, was Sie mir schenken. Aus dem Gefängnis rauszukommen! Ich fühle mich wieder wie ein Mensch. Beinahe wie zu Hause.«
Spaziergänger kamen vorüber. Der Mann trug einen kleinen nassen Hund auf dem Arm, die Hundeleine hielt die Frau, sie zog an der Leine ihren Mann und ihren Hund hinter sich her. Es sah albern aus. Sie starrten auf Nadjeschkas Arbeitsjacke mit dem Aufnäher » OST «.
»Guten Tag«, sagte Georg. »Sie sind neu in Neheim?«
»Aus Dortmund, wir sind übers Wochenende da.«
»Ich bin hier der Lagerführer. Es hat alles seine Richtigkeit.«
Die Frau nickte rasch, dann zog sie Mann und Hund weiter.
Solche Begegnungen waren gefährlich. Ein Parteimitglied hätte ihm das nicht so durchgehen lassen. Er wartete, bis sie um die nächste Wegbiegung verschwunden waren. Dann fragte er: »Bist du bereit, wirklich Josefine zu werden? Nur für diesen Tag.«
Sie nickte.
Er reichte ihr die Tasche. »Ein Sommerkleid. Ich werde mich zum Fluss hindrehen. Du kannst dich im Wald umziehen.«
Nadjeschka sah ihn verwirrt an. Dann aber drückte sie die Tasche an ihre Brust und lief in den Wald. Wie versprochen, wandte er sich zum Fluss um. Sein Herz klopfte einen wilden Galopp, bis er sie hinter sich sagen hörte: »Ich bin so weit.«
Er drehte sich um. Das weiße Sommerkleid mit dem roten Blumenmuster betonte ihren mädchenhaften Körper. Nad jeschka genoss es, bewundert zu werden. Sie machte einen galanten Knicks und strahlte.
»Jetzt wird keiner mehr Fragen stellen.« Er machte einen Schritt auf sie zu und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Georg. Sag bitte du zu mir.«
Sie nahm seine Hand. »Josefine.«
Er reichte ihr den Arm, und sie legte ihre Hand in seine Armbeuge, ganz sanft und leicht. Die zarte Berührung ließ ihm den Atem stocken.
Schweigend gingen sie am Ufer entlang. War sie genauso aufgeregt wie er? Er sagte: »Erzähl mir von deiner Heimat. Wie ist es dort?«
»Meine Heimat … Na ja, die Ukraine ist flach, man kann bis zum Horizont sehen. Es ist ein weites, offenes Land.
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