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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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gab ihr aus seinem Körbchen ab und füllte ihren Korb mit Beeren auf, bis sie gleich viel hatten. Wie hatte sie ihn angestrahlt! Stundenlang waren sie damals an den Sonntagen zusammen durch Wald und Wiesen gestromert. Vermisste sie denn diese Freiheit nicht, wenigstens von Zeit zu Zeit? Als er sie darauf ansprach und versuchte, in ihr Zweifel an den Machthabern zu wecken, erntete er nicht mehr als verlegene Floskeln. Gerade mal, dass sie bekannte, nachts öfter wach zu liegen und darüber zu grübeln, wo das mit dem Krieg noch hinführen würde.
    Anneliese mochte das Gesprächsthema nicht, wurde sichtlich angespannt.
    »Bisher geht es uns gut«, sagte sie. »Wir haben alles, was wir brauchen, die Preise sind in manchem sogar besser als vor Kriegsausbruch.«
    »Ja, und warum? Weil wir die überfallenen Völker ausplündern!« Wollte sie so blind sein? »Wir essen deren Brot, wir heizen mit deren Kohlen! Sie frieren und hungern währenddessen. Und die Juden hatten damit gewiss nichts zu tun. Hitler will Europa beherrschen. Am besten die ganze Welt. Darum haben wir Krieg.«
    »Komm mal mit.« Sie packte ihn am Arm und zog ihn aus der Küche. Im Flur zischte sie: »Bist du wahnsinnig geworden? Die Kinder schnappen alles auf und erzählen es dann in der Schule wieder. Ein Freund von Siegfried hat vor zwei Wochen ausgeplaudert, dass die Eltern nachts BBC hören. Am nächsten Tag wurden sie abgeholt und hingerichtet. Gehenkt, Georg! Wie soll das Kind je wieder glücklich werden, wenn es erst alt genug ist, um zu begreifen, dass es die Eltern auf dem Gewissen hat?«
    »Genau darum geht es mir! Dieser Staat erlaubt uns nicht mal, den Radiosender auszuwählen. Und Axel, ganz nebenbei, ist einer von denen, die andere Leute belauschen und ans Messer liefern.«
    »Das ist nicht wahr. Axel ist Polizist.«
    »Bei der Gestapo. Das ist ein Unterschied, und du weißt das.«
    Sie sah zu Boden. »Es ist seine Sache, was er macht. Er hat sein eigenes Gewissen. Außerdem lasst ihr Männer euch da sowieso nicht reinreden.«
    Was tat er hier eigentlich? Er schämte sich für seine Aggressivität. »Anneliese, ich wollte nicht streiten. Mir geht nur so viel durch den Kopf …« Eigentlich war er guter Dinge gewesen, er hatte sich auf den Nachmittag bei der Schwester gefreut!
    Sie kehrten zurück in die Küche. Siegfried schien nichts gemerkt zu haben und stopfte sich weiter fröhlich Kuchen in den Mund.
    Lilli hingegen saß mit gefalteten Händchen da und presste die Augen zusammen.
    »Sag mal, Lilli, betest du?«, fragte er neugierig.
    Die Kleine hielt weiter die Augen geschlossen. »Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken«, sagte sie mit ihrem hohen Stimmchen auf.
    Entsetzt sah er Anneliese an.
    Die zuckte die Achseln. »Was soll ich machen? So lernen sie das heute im Kindergarten. Soll ich es ihr verbieten?«
    »Jetzt ist Hitler also der neue Herrgott«, seufzte er. »So weit ist es mit dem Personenkult gekommen.«
    »Was ist das«, fragte Siegfried, »ein Personenkult?«
    Anneliese presste die Lippen aufeinander. Streng sagte sie: »Nichts. Und ich möchte, dass du das Wort wieder vergisst. In einem nationalsozialistischen Haushalt sagt man das nicht.«
    »Personenkult«, wiederholte Siegfried, als präge er sich ein neues, herrlich verbotenes Schimpfwort ein.
    Das Schloss knirschte, der Riegel schnappte laut auf. Axel betrat die Wohnung, und sofort sprangen die Kinder auf und rannten ihm entgegen. Anneliese berührte Georgs Arm. »Jetzt ist Schluss mit diesen Bemerkungen.«
    Er nickte.
    Schnaufend kam Axel durch den Flur näher. »Wo sind meine Pantoffeln?«, fragte er. Dies war sein Reich, aus jeder Pore verströmte er das Bewusstsein seiner Herrschaft.
    Georg übergab ihm pflichtschuldig die Hausschuhe.
    Er zog sie an, begrüßte Georg nur beiläufig. Schweißflecken nässten sein Hemd unter den Achseln.
    Siegfried bettelte: »Klaus-Andreas hat eine Dampfmaschine bekommen, die richtig funktioniert! Kann ich auch so was haben?«
    »Du hast schon deinen Stabilbaukasten«, wimmelte ihn der Vater ab. »Bau dir damit einen Kran oder ein neues Auto.«
    »Das ist langweilig.« Missmutig ließ sich Siegfried auf den Boden fallen und packte seinen Panzer aus. Er zog ihn mit dem Schlüssel auf und ließ ihn los. Der Panzer rasselte über den Boden, er fuhr bis unter den Küchenschrank. Aus dem Kanonenrohr flogen Funken. Es roch nach Feuerstein.
    »Wie war das Treffen?«, fragte Anneliese und servierte ihrem Mann ein

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