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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Oft haben wir vor dem Haus gestanden, Mama, Papa, der kleine Arkadi und ich, und haben uns den Sonnenuntergang angesehen. Oder das Wetterleuchten am Horizont, wenn ein Gewitter aufzog.«
    »Vermisst du sie?«
    »Und wie.« Nadjeschkas Griff an seinem Arm wurde plötzlich fester.
    Hat sie jemanden geliebt in der Heimat?, dachte er. Ist ihr Herz vergeben, und sie sieht in mir nur den väterlichen Freund, der Mitleid hat? Er konnte gar nicht anders, er stellte sich kräftig gewachsene Bauernsöhne vor, die Nadjeschka umwarben. Was sollte sie mit ihm?
    Außerdem kenne ich sie überhaupt nicht, fuhr es ihm durch den Kopf. Wie kann ich mich in eine Frau verlieben, von der ich nichts weiß?
    »Warum ich?«, fragte sie plötzlich. »Warum gehen Sie mit mir spazieren und nicht mit einer der anderen Frauen? Weil ich Deutsch spreche?«
    So genau wusste er es selbst nicht. Irgendwie berührst du mich, dachte er. Du bist mir fremd und zugleich auf seltsame Weise vertraut. Laut sagte er: »Schon vergessen, dass du dich erschießen lassen wolltest? Ich bin für euch verantwortlich. Da kann ich nicht zusehen, wie eine begabte junge Frau vor Verzweiflung ihr Leben wegwirft.« Die Lüge schmeckte schal im Mund.
    »Ich verstehe.« Sie löste ihre Hand aus seiner Armbeuge.
    Nahm sie Abstand von ihm, weil sie gehofft hatte, er würde sagen, dass er sie mochte? Oder lag es an der schmerzhaften Erinnerung an Katja, die wieder in ihr aufstieg? Er musste sie auf andere Gedanken bringen.
    Ein Mäusebussardpaar kreiste am Himmel, die Vögel riefen abwechselnd »Hiä«, sie haschten sich im Sturzflug und schraubten sich in eleganten Spiralen schweigend hinauf. »Schau mal«, sagte er, »sie steigen höher und höher, ohne einmal mit den Flügeln zu schlagen.«
    »Sie nutzen die Thermik.«
    Verblüfft sah er sie an. »Hast du vor dem Krieg Physik studiert?«
    Sie lachte lauthals. »Nein. Meinen Sie, nur weil ich aus der Ukraine komme, kann ich nichts von Thermik wissen? Ich bin zur Schule gegangen.«
    »Verzeih. Ich dachte nur …«
    »Sie dachten, wir sind dumme Steppenmenschen, die bloß zur Feldarbeit taugen.«
    »Das hab ich nie gesagt.«
    »Warum behandelt man uns wie Vieh? Warum darf man uns einfangen und zur Arbeit zwingen? In Litzmannstadt mussten wir aussteigen und uns ausziehen. Die haben unsere Kleidung mit Dampf erhitzt und uns entseucht, und dann mussten wir, Männer und Frauen miteinander, nackt auf die Kleidung warten. Es war so erniedrigend!«
    »Das war sicher ein Versehen. Aber die Entseuchung ist nötig, um das Fleckfieber einzudämmen. Glaube mir, das möchtest du nicht haben. Fleckfieber wird durch Läuse, Milben und Flöhe übertragen. An der Stichstelle entstehen blauschwarze Verfärbungen, der ganze Körper schwillt an, der Kranke hat hohes Fieber, Bewusstseinsstörungen. Oft endet die Krankheit tödlich.«
    »Hält man uns für so verkommen, dass man bei uns Flöhe vermutet? Wir sind keine Hunde!«
    »Aber ihr habt eine schlimme Reise hinter euch, oder nicht? Es geht um euer eigenes Wohl. Fleckfieber ist grausam, man verbrennt innerlich und stirbt. Deshalb müssen die Neuankömmlinge und ihre Kleidung desinfiziert werden.«
    »Neuankömmlinge? Sie meinen wohl ›Untermenschen‹. Man geht einfach davon aus, dass wir verseucht sind mit Krankheiten und Ungeziefer.«
    Er wusste, dass sie recht hatte. Seine Landsleute pflegten lauter Vorurteile über andere Menschen: Juden waren raffgierig und tückisch, Russen schmutzig und barbarisch. Dennoch sagte er: »Auch die Soldaten, die aus Russland zurückkommen, müssen durch die Entlausung. Deutsche.«
    »Weil sie bei uns im Osten waren.«
    Er lachte. »Du gibst nicht auf, oder?«
    »Nein.«
    »Lust auf ein Eis?«
    Sie überlegte. »Ein Apfel wäre mir lieber. Oder ein Stück Brot. Ich hab solchen Hunger, seit Tagen.«
    »Sollst du alles haben. Gehen wir in die Stadt!«
    Nadjeschka blieb stehen. »In die Stadt? Ist das nicht zu gefährlich?«
    »Warum? Du bist Josefine, und ich bin Georg. Wir machen einen Osterspaziergang. Du solltest übrigens aufhören, Sie zu mir zu sagen. Sonst wundern sich die Leute wirklich.«
    »Ich habe einen Akzent.«
    »Kaum. Du könntest Schwarzmeerdeutsche sein.«
    »Also gut.« Sie kauerte sich an das Flussufer und warf sich Wasser ins Gesicht, wusch sich die Arme, die Stirn, den Hals. »So, jetzt bin ich so weit.«
    »Du triefst ja!«
    »Das trocknet schnell. Haben Sie Angst vor Wasser?« Lachend steckte sie wieder ihre Hand in seine Armbeuge, sein

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