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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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dass sie durchaus Humor hat.« Er blieb stehen. »Wir sind da. Mach’s gut, Paulheinz.«
    Er bugsierte Nadjeschka in den Vorraum des Kinos. Sie stellten sich an der Kasse an.
    »Hat er es gemerkt?«, fragte sie.
    »Ich hoffe nicht.« Er wartete noch eine Weile, während sie allmählich vorrückten, dann zog er Nadjeschka aus der Warteschlange und verließ das Kino.
    Ulrich Wiese drückte sich gegen die Hauswand. Er hatte das Kino erst betreten wollen, wenn der Film schon lief, um im Dunkeln ungesehen hinter den beiden Platz zu nehmen. Warum kamen sie jetzt schon heraus?
    Durch den Stoff des Beutels, den Hartmann trug, schimmerte ein quadratisches Symbol hindurch. » OST « stand darauf. Ulrich Wiese blieb stehen, er ließ sie ziehen. Natürlich. Jetzt bekam alles einen Sinn.
    Sie trug das neue Kleid, damit sie in der Stadt nicht als Ostarbeiterin erkannt wurde. Die Frau war eine von den Lagerinsassinnen. Georg Hartmann vögelte eine Fremdvölki sche! Blutschande war das und Hochverrat am deutschen Volk.
    Vor Aufregung schnappte er nach Luft. Das konnte die entscheidende Wende in seinem Leben werden. Er durfte jetzt nur nichts überstürzen, musste klug handeln. Wie konnte er aus der Sache Profit schlagen? Natürlich würde Hartmann am Galgen enden. Vielleicht ist sogar noch mehr drin, dachte er, für mich selbst muss ordentlich etwas herausspringen.

16
    »Was ist los, Georg, du strahlst ja so?« Anneliese hielt ihm die Tür auf.
    »Nichts ist los.«
    »Du bist verliebt.« Sie stieß ihn in die Seite. »Das seh ich sofort.«
    Er lachte. Schlüpfte aus den Schuhen.
    »Du kannst Axels Pantoffeln haben.« Sie brachte sie ihm.
    »Stört ihn das nicht?«
    »Ach was! Und falls doch, ziehst du sie eben wieder aus, wenn er nachher kommt.«
    Er schlüpfte hinein und folgte Anneliese in die Küche. Unter dem Tisch lauerte hinter einer halb fertigen Klötzchenruine der Spielzeugpanzer, als ziele er auf Angreifer.
    Georg setzte sich. Offenbar knipste Anneliese immer noch in Heimarbeit Ösen in Wehrmachtsuniformknöpfe, ein ganzer Haufen davon lag auf dem Tisch, dazu zwei Zangen. Er ließ einige Knöpfe durch die Hand gleiten. »Zahlen sie inzwischen besser?«, fragte er.
    »Wer?«
    »Tappe & Cosack an der Bahnhofstraße.«
    »Sie zahlen wie immer. Lenk nicht vom Thema ab. Wer ist es? Hast du dich mit Eva versöhnt?«
    Siegfried stürmte in die Küche und ersparte ihm die Lüge. »Onkel Georg! Bleibst du zum Essen? Spielen wir ›Mensch ärgere dich nicht‹? Wir haben einen neuen Wellensittich, den musst du dir anschauen!«
    »Wie wär’s mal mit Rommé? Oder Schach. Es ist Zeit, dass du das lernst. Soll ich’s dir beibringen?«
    »Kannst du auch Wehrschach?«
    »Nein.« Was sollte das sein? Den Begriff hatte er noch nie gehört.
    »Die Großen bei der HJ spielen das immer. Da ist das Brett in mehrere Gebiete unterteilt, und man hat Jagdflieger und Panzer und so.«
    »Das kenne ich nicht, Siegfried.«
    »Soll ich dir was zeigen?« Der Junge ging zurück in den Flur. Georg konnte sehen, wie er eine Schallplatte auflegte und das Grammophon mit der Kurbel aufzog. Kaum hatte er die Na del aufgesetzt, dröhnte Musik los, wirre, rasende Musik, und eine Stimme sang hektisch im Falsett. Siegfried krümmte sich vor Lachen. »Als würde ein Zwerg sprechen, Onkel Georg!«
    »Mach das aus«, verlangte Anneliese.
    Eine lustige Idee, die Geschwindigkeit zu hoch einzustellen. Und Siegfried bot einen erfrischenden Anblick: ein Kind, das von ganzem Herzen lachte. Wie selten sah man das in letzter Zeit. Heute empfand er Liebe für die Menschen wie schon lange nicht mehr. Für Anneliese in ihrer blauen Schürze. Für Siegfried. Weil Nadjeschka ihn gern hatte, konnte er die ganze Welt ins Herz schließen.
    Die Schwester schnitt mit einem langen Messer den Kuchen. Sie sah auf. »Rand oder Mitte?«
    »Eins vom Rand bitte. Da schmeckt man so schön den Hefeteig.«
    Lächelnd legte sie ihm ein großes Stück Apfelkuchen auf den Teller. Und sorgte dann dafür, dass auch die Kinder ordentlich aßen, ohne den Tisch mit Krümeln zu übersäen.
    Sie war eine erwachsene Frau geworden, eine Mutter, die sich um ihre Kinder kümmerte, zuverlässig und fürsorglich. Dabei konnte er sich noch so gut an die Zeit erinnern, als Anneliese selbst ein Mädchen gewesen war, das bei jeder Gelegenheit heulte. Unwillkürlich musste er daran denken, wie sie als Kinder einmal im Wald Beeren gesammelt hatten und Anneliese weniger fand als er. Schon vergoss sie Tränen. Er

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