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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Abgestorben. Wie im Schlaf setzte sie einen Fuß vor den anderen. Atmete. Hielt die Tränen zurück, die von innen gegen die Augen drückten.
    Liebe bedeutete, den anderen zu kennen und zu begleiten, ihm nahe zu sein. Das schmerzte sie am meisten: dass Georg ihr für immer ein Fremder bleiben würde. Sie hatte nur so wenig von ihm kennenlernen dürfen! Was er dachte und fühlte, wusste sie nicht, und sie würde es nie erfahren. Er war Deut scher. Er verwaltete diesen Sklavenmarkt, war Gefängniswärter und Händler in einem, er handelte mit ihrer Arbeitskraft. Aber er hatte auch mit ihr gelacht und ihr einen Kuchen gebacken, war mit ihr im Sonnenschein spazieren gegangen. Er hatte sie aus der Baracke geholt, nur um ihr Lächeln zu sehen.
    Was ging in diesem Mann vor, der so hart sein musste, und doch insgeheim ein weiches Herz besaß?
    Ich muss ihn vergessen, sagte sie sich. Er hat mir geholfen, nicht völlig zu vereinsamen und zu verdorren. Nicht ganz verloren zu sein in diesem fremden Land. Aber ich gehöre hier nicht hin.
    Sie sehnte sich nach den endlosen Sonnenblumenfeldern der Heimat. Dem blauen Meeresufer bei Odessa. Dem Pitsch ihrer Großmutter, vorn kochte die Babuschka, und sie, Nadjeschka, kletterte hinten auf den Holzofen und hielt auf seinem warmen Gemäuer den besten Mittagsschlaf der Welt.
    Gedankenversunken betrat sie die Baracke. Im Flur stellte sich ihr Agatha in den Weg. »Na, hast du einen schönen Plausch mit Herrn Hartmann gehabt? Ihm alles verraten, was deine kleinen Ohren gehört haben?«
    »Lass mich in Ruhe.«
    Hinter Agatha erschienen weitere Frauen. Eine sagte verächtlich: »Schäm dich, deine Kameradinnen ans Messer zu liefern!«
    »Sie lauert auf Vorteile«, sagte Agatha. »Sie verkauft ihre Leidensgenossinnen und kriegt dafür Ausgang, während wir hier drin schmoren müssen. Ich hab nie Ausgang bekommen. Hab ja auch immer dichtgehalten. Nichts preisgegeben. Deshalb wollte er mich loswerden, warum sonst? Aber diese Giftspritze hat sich ihm an den Hals geworfen.«
    Nadjeschka drängte sich an ihnen vorüber und floh in ihr Zimmer. Die Frauen dort behandelten sie zwar wie Luft, doch immerhin putzte man sie nicht herunter. Niemand redete mehr mit ihr, bis auf Oksana, die dafür ebenfalls mit Verachtung gestraft wurde.
    »Ist alles in Ordnung?«, raunte Oksana ihr zu. »Du siehst furchtbar aus.«
    Nadjeschka zuckte die Achseln und stieg ins Bett. Sie kroch unter die Decke, tastete nach dem Stein, umklammerte ihn ganz fest und zog die Hände mit dem Stein an ihre Brust. Sie rollte sich unter der Decke zusammen.
    Es war ein Labradoritstein, blau schimmernd. Wlad hatte ihn ihr geschenkt, Wlad, der ihr schöne Augen machte, zu Hause in Stepove. Das war wenige Tage gewesen, bevor sie von den Deutschen verschleppt wurde. In Łó d ´ z, das die Deutschen Litzmannstadt nannten, hatte sie den Stein in den Mund genommen, um ihn durch die Kontrolle zu retten. Man schob ihre Kleider auf einen nummerierten Bügel und hängte ihr eine Blechmarke um den Hals. Als sie splitternackt in einer Reihe dastanden und mit einem scharfen Insektizid bespritzt wurden, an allen behaarten Stellen ohne Rücksicht auf die Augen oder die Intimteile, da gab der Stein im Mund ihr Halt. Dann die Wanne mit demselben aggressiven Mittel, durch die sie in den anderen Raum waten mussten. Die Duschen. Bevor die drei Ärzte in SS -Uniform sie untersuchten, hatte sie den Stein rasch wieder in die Faust genommen. Rücksichtslos waren sie zurück in den Waggon gestoßen worden. Wie Vieh.
    Ich darf nicht vergessen, wer ich bin, dachte sie. Hab ich nicht alles andere auch überstanden? Das wochenlange Ausheben von Panzergräben, damit die deutschen Panzer hineinfuhren und darin stecken blieben, endlose Gräben, schräg an der Westseite und steil an der Ostseite, damit sie an der Grabenwand nicht weiterkamen. Die langen Arbeitskolonnen in den Grä ben, schaufeln, den ganzen Tag, nur Frauen, und ein Russe hielt Wache, und als dann die Deutschen kamen, fuhren sie gar nicht übers Feld, sondern die Straße entlang, wo kein Graben war.
    Wie sie sich anfangs gefreut hatte, mit den deutschen Soldaten reden zu können, wie Großmutter ihnen Mamaliga mit Smetana, saurer Sahne, kochte. Aber die Deutschen mochten den Maisgrieß nicht. Wie die Soldaten auf Motorrädern mit Beiwagen durchs Dorf geknattert waren, ihr Cousin durfte ein mal mitfahren. Wie man Güterzug um Güterzug gute Erde aus der Ukraine holte und nach Deutschland fortbrachte, und

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