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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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riss sie aus dem Schlaf. Nadjeschka öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder, der Anblick der sirrenden Lampen schmerzte. Schweigend blieben die Frauen in ihren Betten liegen, schöpften die letzten Minuten Ruhe aus.
    Die Tür knallte gegen die Wand, und Plöger brüllte: »Aufstehen!«
    Gehorsam wälzten die Frauen sich aus den Betten. Nad jeschka stolperte mit den anderen durch den Flur nach draußen. Es war stockfinster, und es regnete. Bis sie bei der Waschbaracke angelangt war, hatte der kalte Regen ihr die Kleider durchnässt.
    »Wegen gestern«, sagte Oksana, »ich hab noch mal nachgedacht. Ich mach nicht mit.«
    »Sei still.«
    »Du solltest es auch lassen.«
    »Ich dachte, du willst deine Kinder wiedersehen?«
    »Das will ich. Und gerade deshalb kann ich’s nicht.« Sie raunte Nadjeschka ins Ohr: »Die erschießen uns.«
    Nachtfalter schwirrten um die nackten Glühbirnen. Nadjeschka hielt die Hände in die Blechrinne und ließ aus dem Hahn kaltes Wasser darüberlaufen. Dann nahm sie einen Batzen von Oksanas stinkender Seife. Obwohl sie bereits fror, wusch sie sich gründlich. Auf der Flucht durfte man ihr nicht ansehen, dass sie aus dem Lager kam.
    Zurück in der Stube, fragte Oksana: »Bist du böse auf mich?«
    »Nein. Du musst das für dich selbst entscheiden.«
    Schweigend saßen sie beieinander und kauten ihr Brot. Seit sie wusste, dass es gehäckseltes Laub enthielt, meinte sie, bei jedem Bissen den moderigen Dunst verfaulter Blätter zu schmecken. Sie blies auf den heißen Ersatzkaffee im Becher. Was würde sie die nächsten Tage essen?
    Plöger schnauzte: »Aufstellen zum Ausmarsch!«
    Im strömenden Regen reihten sie sich auf. Der Boden zwischen den Baracken war zum Schlammbad geworden. Nadjeschka blieb mit der rechten Holzpantine stecken und musste sich bücken, um sie wieder herauszuziehen.
    Georg erschien in der Tür der Verwaltungsbaracke. Er öffnete einen Regenschirm, dann kam der obligatorische Blick auf die Taschenuhr.
    »Rechtsum!«, befahl Plöger.
    Sie drehten sich nach rechts.
    »Kolonne Trögelkind: vorwärts marsch!«
    Warum lächelte Georg sie an? Ihre Brust schmerzte, weil sie wusste, dass sie ihn zum letzten Mal sah. Es war ein wortloser Abschied für immer. Sie hob kurz die Hand in der Hoffnung, dass Plöger es nicht bemerkte. Georg nickte ihr zu und lächelte noch mehr.
    Schon marschierten sie zum Tor hinaus. Wie aus Gießkannen fiel der Regen auf sie nieder. Böen peitschten ihn gegen die Fenster der Häuser. In den Vorgärten ließen die Tomatenstauden und die Johannisbeerbüsche die triefenden Blätter hängen, Erdbeerpflanzen duckten sich zur Erde nieder. Ihnen war der rauschende, volle Frühlingsregen willkommen. Nadjeschka aber fror. Die klobigen Zweischnaller der Frauen klapperten auf dem Gehwegpflaster und klatschten ihnen an die Fersen. Sie waren kaum Schuhe zu nennen: ein Holzbrett mit zwei aufgenagelten Lederschnallen. Wenn sie weit kommen wollte heute, musste sie sich richtige Schuhe beschaffen. Nur wie?
    Die Fabrikhalle empfing sie zugig und kalt. Zum ersten Mal freute Nadjeschka sich auf die Schwefelpresse. Die Wärme der heißen Geschosse würde helfen, Rock und Bluse zu trocknen. Nur noch diesen einen Tag musste sie arbeiten, dann würde sie frei sein.
    Ein Mann vom Werkschutz fischte sie aus der Reihe heraus. »Kriegst ’ne neue Stelle«, sagte er, »geh mal nach hinten zum Meister.«
    Sie meldete sich beim Meister, und der brachte sie in einen abgetrennten Raum am Ende der Halle. Er sagte: »Du arbeitest ab heute in der Lackiererei. Da kannst du nicht viel falsch machen. Du nimmst die Geschossköpfe vom Band, legst sie auf die Drehscheibe, und mit dem linken Fuß versetzt du sie in Bewegung. Schau her.« Er machte es vor. Während er die Scheibe ankurbelte, wurde der kegelförmige Geschosskopf grün gespritzt.
    Eine Deutsche nahm das Geschoss und stellte es zum Trocknen auf. Andere, die bereits getrocknet waren, packte sie in eine Holzkiste. »Ich bin Gerda«, sagte sie.
    »Nadjeschka.«
    »Wo warst du vorher?«
    »An der Schwefelpresse.«
    »Du sprichst gutes Deutsch.« Gerda hob anerkennend die Brauen.
    »Schluss mit dem Gequatsche«, knurrte der Meister. »Wer redet, macht Flüchtigkeitsfehler. Ich will, dass es heute reibungslos läuft.« Er verließ die Lackiererei, und nach einem lauten Pfiff rollte das Förderband an.
    Anfangs musste Nadjeschka sich auf jede Bewegung konzentrieren. Nach einer Stunde führte sie die Handgriffe aber bereits

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