Nachtauge
Kuchen, so oft wie sie wollte, Bücher, schöne Kleider, sie sollte haben, was sie sich wünschte. Und wenn erst der Krieg vorüber war, würden sie reisen und gemeinsam die Welt bestaunen. Er war ja nicht der verknöcherte Lagerleiter, für den ihn viele hielten. Diese Rolle hatte man ihm aufgezwungen. Wenn er das Joch erst abgeschüttelt hatte, würde er wieder frei atmen, er würde er selbst sein und Nadjeschkas innige Liebe gewinnen.
Er ging ins Wohnzimmer. Die Bücher flüsterten wieder mit ihm, es verlangte ihn danach zu lesen, Jack London, Alfred Döblin, oder er holte Dickens aus dem Kleiderschrank, nein, besser Thomas Mann, er könnte heute Abend in Der junge Joseph schwelgen. Zuvor aber zog er den großen Schulatlas aus dem Regal, schlug die Karte des Deutschen Reichs auf und fuhr mit dem Finger über die Städtenamen. Ins Ausland konnten sie es nicht schaffen, die Grenzen waren zu. Doch auch in Deutschland gab es abgelegene Regionen. Nordöstlich von München auf dem Land, bei Neumarkt-Sankt Veit, da könnten sie wohnen. Oder in Mecklenburg, wer suchte sie schon in Mecklenburg! Sie mussten sich nur unauffällig verhalten.
Andererseits, in kleinen Orten stellte man viele Fragen, jeder kannte jeden, und sie würden als Fremde herausstechen. War eine große Stadt also die klügere Wahl? Dresden? Breslau? Berlin? In der Menschenmasse fielen sie nicht weiter auf.
Er glühte innerlich bei der Vorstellung, dem System ein Schnippchen zu schlagen. Das war ein Abenteuer, wie es vor fünfhundert Jahren eine große Seefahrt gewesen war, eine Expedition ins Ungewisse.
Um acht Uhr schaltete er den Volksempfänger ein und hörte den Heeresbericht.
Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Am Kubanbrückenkopf wurden auch gestern die in mehreren Wellen anrennenden Sowjets unter schweren Verlusten zurückgeschlagen.
Im April verlor die sowjetische Luftwaffe 1 082 Flugzeuge, hiervon wurden 902 in Luftkämpfen, 121 durch Flakartillerie der Luftwaffe und zehn durch Truppen des Heeres und Einheiten der Kriegsmarine abgeschossen, die übrigen am Boden zerstört.
An der tunesischen Front wurden örtliche feindliche Angriffe zum Teil im Gegenstoß abgewiesen.
Bei Vorstößen feindlicher Fliegerkräfte gegen die holländische Küste und das westliche Grenzgebiet wurden elf britische Flugzeuge bei drei eigenen Verlusten abgeschossen.
Einige feindliche Flugzeuge überflogen in der vergangenen Nacht Ostpreußen. Ein Bomber wurde zum Absturz gebracht.
Im Kampf gegen die britischen und nordamerikanischen Seeverbindungen versenkte die Kriegsmarine im April 63 Handelsschiffe mit zusammen 423 000 BRT , davon allein 415 000 BRT durch Unterseeboote, und torpedierte 18 weitere Schiffe. Die Luftwaffe beschädigte zehn Handelsschiffe zum Teil schwer.
Auch im Kampf gegen feindliche Kriegsschiffe waren Kriegsmarine und Luftwaffe erfolgreich. Unterseeboote versenkten einen Flugzeugträger, einen Kreuzer, drei Zerstörer und ein Unterseeboot. Andere deutsche Seestreitkräfte vernichteten zwei Zerstörer, drei Unterseeboote und sieben Schnellboote. Die Luftwaffe versenkte zwei Unterseeboote und ein Schnellboot. Zwei feindliche Zerstörer, ein Unterseebootjäger, elf Schnellboote und ein Vorpostenboot wurden beschädigt.
Er konnte sich vorstellen, dass alle mit leuchtenden Gesichtern vor ihren Radios saßen und sich über die Erfolge freuten. Aber er konnte das nicht mehr. Er fragte sich, weshalb sie den Namen des versenkten Flugzeugträgers nicht erwähnten. Vor vier Jahren, als U 29 den britischen Flugzeugträger HMS Courageous versenkt hatte, waren große Jubelmeldungen erschienen; jetzt sagte man lapidar »ein Flugzeugträger« sei versenkt worden. Gab es ihn am Ende gar nicht? Waren das erfundene Erfolgsmeldungen? Zumindest übertrieben würden sie sein, die Abschusszahlen waren verdoppelt oder verdreifacht, da war er sich sicher. Und warum sagten sie kaum eigene Verluste an? Der Gegner verlor Panzer und Schiffe und Flugzeuge, und die Deutschen taumelten scheinbar von Sieg zu Sieg. Dass das nicht mehr stimmte, musste doch inzwischen jedem klar sein. Er schaltete das Radio aus.
Lange lag er wach an diesem Abend. Er spürte, dass sich sein Leben an einem Wendepunkt befand. Endlich zu wissen, was er wollte, es so vollkommen zu wissen, dass er bereit war, dafür zu sterben, wühlte ihn auf. Die Aussicht, mit Nadjeschka den Rest seines Lebens zu verbringen, machte ihn so glücklich, wie er es noch nie gewesen war.
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Grelles Licht
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