Nachtauge
bis sie ganz außer Atem waren. »Komm, koste ein Stück.« Er hielt ihr den Teller hin.
Nadjeschka brach ein Stück vom Kuchen ab. Er hatte noch nie jemanden so behutsam Kuchen essen gesehen. Sie steckte sich das Stück in den Mund und fing an zu kauen. Sie schloss die Augen, hielt inne. Es dauerte eine Weile, bis sie schluckte.
»Ich habe wenig Übung in der Küche«, sagte er.
»Das ist der beste Kuchen, den ich je gegessen habe.« Sie aß weiter, genussvoll und ruhig, aber ohne je zu unterbrechen, bis der gesamte Kuchenlaib verzehrt war. Mit der Fingerspitze pickte sie die Krümel vom Teller auf und steckte sie sich in den Mund.
»Der ganze Kuchen auf einmal! Du hattest wohl kräftigen Hunger?«
Sie sah zu Boden.
»Ich freue mich, dass es dir geschmeckt hat. Wenn ich euch doch größere Tagesrationen verschaffen könnte!«
»Danke«, sagte sie, »für den wunderbaren Kuchen.« Sie reichte ihm die Hand, über den Schreibtisch hinweg.
Er nahm sie entgegen, die kleine schmale Hand.
Erst als sie ihn losgelassen hatte, fand er die Worte wieder. »Ich … Was kann ich noch tun, um dir eine Freude zu machen? Möchtest du Milch trinken? Ich könnte dir welche reinschmuggeln.«
Sie dachte nach. »Wir haben Läuse, es juckt fürchterlich. Könntest du uns Petroleum beschaffen?«
Sorgenvoll besah er ihre roten Haare. »Läuse? Die müsst ihr rasch loswerden. Ich kümmere mich darum.«
»Und wie geht es dir? Wir haben fünf Tage nicht gesprochen, und es ist nicht leicht, aus deinem Gesicht zu lesen, wenn du den Morgenappell überwachst.« Sie lächelte.
»Die Deutsche Arbeitsfront hat mich einbestellt, weil ich den Nazis zu wenig Geld spende. Und morgen ist eine Festveranstaltung der NSDAP , zu der ich wohl hinmuss, obwohl ich kein Mitglied bin – sonst manövriere ich mich noch mehr ins Abseits. Aber sonst geht’s mir sehr gut.« Von Wiese, diesem Schnüffler, sagte er besser nichts. Sie sollte sich nicht auch noch darum sorgen müssen. »Ich denke oft an dich.«
Röte flog über ihre Wangen. Nadjeschka reichte ihm verlegen den Teller.
Er lachte, um die peinliche Stille zu überbrücken. »Meine Güte, ist der sauber! Du lässt kein Beweismaterial zurück. Gut gemacht!«
»Niemand soll von mir wissen, nicht wahr? Weil ich in ihren Augen nicht so wertvoll bin wie du.«
»Aber die haben Unrecht.«
»Bin ich ein Abenteuer für dich? Ein Spiel, bis sie mich wieder in die Ukraine zurückschicken?«
»Du wirst nicht zurückgeschickt. Ihr werdet für die Deutschen arbeiten müssen, solange dieser Krieg andauert. Sklavenvolk und Herrenvolk, du weißt ja, wie sie reden. Das muss uns nicht kümmern, Nadjeschka.«
»Wie soll es uns nicht kümmern? Ich bleibe die Gefangene und du der Lagerleiter. Wo soll das hinführen? Die ganze Welt müsste sich verändern, damit wir eine Chance bekommen, und das wird sie nicht. Am Ende habe ich ein zerbrochenes Herz und bin allein.«
»Und ich? Denkst du, ich setze nichts aufs Spiel? Meine Arbeit, mein Ruf … Für mich ist das genauso ein Wagnis.«
Ihre Nasenflügel bebten. »Soll ich dir dafür danken, dass du dich zu mir herablässt? Muss ich dankbar dafür sein, dass ein kostbarer, reinrassiger Deutscher sich für ein wertloses ukrainisches Mädchen interessiert?«
»Nadjeschka, so meinte ich das nicht. Ich wollte nur sagen, dass ich auch einen Preis bezahle. Aber ich bezahle ihn gern.«
»Georg Hartmann, du bist ein besonderer Mensch. Ich …« Sie stockte, blinzelte ihn scheu an: »Ich fühle mich zu dir hingezogen. Deine Art, deine Gedanken, dein Herz – das alles fasziniert mich. Aber wir bezahlen und kriegen nichts dafür. Das hat keinen Sinn. Wir können gegen diese Welt nicht ankommen. Vielleicht ist es besser, wenn ich … Wenn ich in Zukunft wieder Ostarbeiterin Nummer dreizehntausendnochwas bin, und du bist Lagerführer Hartmann. Der Krieg gewinnt, er gewinnt immer.« Sie ging zum Eingang, stand dort noch einen Moment, reglos, wie mit angehaltenem Atem. Dann verließ sie das Büro und schloss leise die Tür.
Lange sah er auf den Teller, auf den leeren Stuhl. Sie hat recht, dachte er bitter und wollte es doch nicht wahrhaben.
Nadjeschka überquerte den Hof. Starrte die Türme an, die dunklen, schmutzigen Baracken. Sah den Stacheldraht, den Wachposten mit dem Schäferhund und den mit dem Maschinengewehr. Und sah das alles doch nicht. Der Rücken tat ihr weh von der Fabrikarbeit, vom stundenlangen Stehen und Herüberheben und Befüllen. Ihr Herz war stumpf.
Weitere Kostenlose Bücher