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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Großmutter schüttelte betrübt den Kopf. Damals hatte man so wenig über die deutsche Politik gewusst – nur dass es einen Führer gab, der Hitler hieß. Und dann sah sie, was die Deut schen taten, und sprach monatelang kein deutsches Wort mehr. Wie sie jüdische Männer abholten und erschossen, und die Frauen mussten im Winter Schnee von den Straßen schaufeln, bis sie nicht mehr konnten, und wurden zum Lohn an die Wand gestellt. Als ein Offizier zu ihr kam und sagte, er habe gehört, dass sie Deutsch spräche, sie bräuchten eine Dolmetscherin, da hatte sie den Kopf geschüttelt und kein Wort gesagt.
    Vor ihrem inneren Auge sah sie die Großmutter. »Mädchen, was tust du da in Deutschland?«, fragte sie. »Da gehörst du nicht hin. Komm nach Hause.«
    Die Decke lüftete sich, Oksanas rundes Gesicht spähte durch den Spalt. »Darf ich zu dir ins Bett kommen?«
    Sie nickte.
    Der Bettkasten knackte bedrohlich, als Oksana hineinkletterte, und nachdem sie ebenfalls unter die Decke geschlüpft war, reichte sie nicht mehr über den Rücken, nur ihre Köpfe und Oberkörper waren noch bedeckt. »Was brütest du hier aus?«, fragte sie.
    »Ich will nach Hause«, flüsterte sie. »Kommst du mit?«
    »Das ist ein verdammt weiter Weg. Und er führt mitten durchs Kriegsgebiet, mal abgesehen davon, dass überall die Deutschen sind.«
    »Wir sprechen beide Deutsch.«
    »Und was essen wir?«
    »Ab und zu finden wir etwas. Auf dem Land ist es nicht so streng. Die Bauern helfen uns.«
    »Jeder ist bisher wieder eingefangen worden. Wie willst du überhaupt rauskommen?«
    »Ich weiß schon, wie. Ich geh morgen. Und ich nehm dich mit, wenn du mitkommen willst. Dann siehst du im Sommer deine Kinder wieder.«
    Gegen sieben Uhr war er zu Hause. Wehmütig saß Georg am Küchentisch und starrte auf den leeren Kuchenteller, Nadjeschkas Kuchenteller. Die Stille der Wohnung bedrückte ihn. Er hatte Kopfweh, und die verweinten Augen brannten. Jeder Appetit war ihm vergangen, er wollte weder Radio hören noch etwas essen, weder lesen noch spazieren gehen.
    Nadjeschka hatte ja recht. Welche Zukunft gab es denn für sie? Ihre Liebe musste zur Qual werden. Heimliche Blicke zu tauschen, seltene stille Begegnungen herbeizusehnen, das mochte für den Beginn einer Beziehung das Richtige sein. Aber sich auf Lebenszeit zu vermissen oder nur unter Todesgefahr zu treffen, das brachte ewige Schmerzen und am Ende Bitterkeit.
    Er lachte müde. Man konnte nicht zwei Herren dienen, das stand schon in der Bibel. Er saß zwischen den Stühlen: Entweder lehnte er sich gegen den nationalsozialistischen Staat auf mit seiner Rassenlehre und dem Ausbeuten anderer Völker, oder er verlor Nadjeschka.
    Die Eichenuhr im Flur schlug siebenmal. Aus dem Wohnzimmer antwortete die kleinere Schlaguhr seiner Tante.
    Wenn er sich gegen das System entscheiden könnte, wenn er mutig wäre wie Thomas Mann! Jeden Monat sendete die BBC eine Rede des Schriftstellers, in der er die deutschen Hörer auf das menschenverachtende Vorgehen der Nazis hinwies, auf die Ausrottung der Juden, auf die Vergasungen und die Kriegsverbrechen. Thomas Mann erinnerte sein Volk an die große kulturelle Tradition Deutschlands und rief zur Umkehr auf. Welch einen hohen Preis bezahlte er dafür! Seine Bücher durften in Deutschland nicht mehr verkauft werden, er war als Fahnenflüchtiger, als Verräter am eigenen Volk verschrien.
    Und ich, dachte Georg. Ich helfe den Nazis. Ich halte die Kriegsmaschinerie am Rollen, damit ich noch einen Rest Ansehen behalte, damit ich zu essen habe und mein Leben schütze. Ich bin mit schuld daran, dass in diesem Moment Männer aufeinander schießen, dass die Artillerie röhrt und die Granaten platzen. Genauso schuld wie die Hurrarufer, genauso schuld wie die Gesetzesmacher und die SS -Schergen.
    Nadjeschka musste keine Lagerinsassin bleiben. Sie sprach hervorragend Deutsch, sie konnten unter einem falschen Namen in einer entfernten Stadt untertauchen, er musste ihnen nur Pässe beschaffen – so etwas gab es doch, Passfälscher, und Leute, die Lebensmittelkarten nachahmten. Hatte Axel nicht davon erzählt? Wenn er ihn unauffällig darauf ansprach, erfuhr er vielleicht, wo er diese Schlitzohren suchen konnte.
    Der Plan, Nadjeschka zu befreien, weckte seine Lebensgeister. Er durfte sich dem Schicksal nicht wehrlos ausliefern. Er würde dieser zauberhaften Frau zeigen, dass es noch Freiheit gab in Deutschland, würde ihr beweisen, wie schön das Leben mit ihm sein konnte.

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