Nachtauge
weiter wir weg sind vom Lager, desto besser. Bei Tagesanbruch verkriechen wir uns. Und wenn sie uns morgen nicht fangen und wir dann noch eine Nacht weitermarschiert sind, finden sie uns nicht mehr. Dann schaffen wir …«
»Still!« Oksana blieb stehen. »Hörst du das?«
Ein Knattern, das lauter wurde. »Mit denen sind sie in der Ukraine auch immer gefahren.« Schon sahen sie von Neheim her zwischen den Bäumen ein Scheinwerferlicht aufleuchten. »In den Wald!« Nadjeschka rannte los. Äste zerschrammten ihr die Haut an den Armen. Der Boden war uneben, sie geriet ins Stolpern, rappelte sich wieder auf.
Lärmend kam das Motorrad näher. Sie warfen sich zu Boden. Der Lichtkegel erhellte gespenstisch den Wald. Plötzlich hielt das Motorrad. Eine Taschenlampe flammte auf, der Licht kegel sprang von Stamm zu Stamm. Nadjeschka presste sich an den kalten Waldboden. Neben ihr schnaufte Oksana. Hörte man sie trotz des Motors?
Der Motorradfahrer knipste die Lampe aus und fuhr weiter, langsamer als zuvor.
Sie blieben am Boden liegen. Warteten, bis das Licht sich weit entfernt hatte. »Das war knapp«, sagte Oksana.
»Glaubst du, er ist wegen uns losgeschickt worden?«
»Niemand fährt sonst um diese Zeit durch den Wald. Außerdem hat nur die Wehrmacht Kraftstoff für die Fahrzeuge. Die suchen uns schon.«
Der Motor war noch von ferne zu hören. Sie standen vorsichtig auf, klopften ihre Kleider ab und setzten ihren Weg fort. Es war lediglich ein vorsichtiges Tasten, sie kamen kaum vor wärts. Einmal sahen sie ein Jagdhaus, im Fenster glomm Licht. Sie machten einen großen Bogen darum. Dann wieder das Knattern, das Motorrad kam zurück. Sie kauerten sich nieder, warteten. Sie hatten alle Regeln gebrochen. Jetzt galten sie als Freiwild, und die Jagd auf sie war eröffnet.
Das Telefon läutete, kaum dass er die Wohnung betreten hatte. Georg gefror das Blut in den Adern. Unerbittlich klingelte es. Hatte Wiese doch die Polizei gerufen? Er zögerte, bevor er den Hörer abnahm. »Hartmann hier. Wer spricht?« Seine Stimme klang heiser, die Angst schnürte ihm die Kehle zu.
»Endlich erreich ich Sie. Wir haben zwei Flüchtlinge, Herr Hartmann.«
Das Lager, Gott sei Dank. Aber er durfte sich die Erleich terung nicht anmerken lassen, fragte streng: »Wer ist ab gehauen?«
»Oksana und Nadjeschka.«
Oestreichers Antwort traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. »Wie … wie ist das möglich?«
»Sie haben mir vorgetäuscht, dass sie zu Ihnen müssten, es handle sich um etwas Dringendes. Sie wollten mitbekommen haben, dass andere eine Flucht vorbereiten. Da hab ich sie zu Ihnen geschickt.«
Nadjeschka hatte ihn ausgenutzt, ihn ausgehorcht. Ihre Zu neigung war vorgetäuscht gewesen, das Lachen, das Glänzen in den Augen. Er war für sie ein Werkzeug gewesen, nichts weiter. Ein Mittel zum Zweck.
Er wollte doch Wurst kaufen und Hartkäse, die Schuhe neu besohlen lassen für ihre gemeinsame Flucht. Ihm wurde schwindelig. Er kam sich vor wie eine Fliege, der schadenfrohe Kinder die Flügel ausgerissen hatten und die noch verzweifelt über das Fensterbrett hüpfte, bis ihr die Kinder auch die Beine ausrissen und sie als gliedloser Körper sterben durfte. »Informieren Sie die Polizeistationen im Landkreis«, sagte er verbittert. »Wie lange sind sie schon fort?«
»Fast zwei Stunden. Ich habe Plöger geweckt und ihn losgeschickt, sie zu suchen. Er ist mit dem Motorrad unterwegs. Bauernfeindt und Witte suchen in der Stadt.«
»Das können sie sich sparen. Die beiden sind nicht mehr in Neheim. So dumm sind die nicht.« Wie weit konnten sie gekommen sein? Bis zum Schwarzen Bruch? Oder hatten sie den Weg über Himmelpforten gewählt? Den über Lüttringen, über Holzen, Herdringen? Es gab viele Möglichkeiten. »Rufen Sie in Lüttringen an. Sie sollen Suchtrupps losschicken.«
»Und noch etwas, Herr Hartmann. Agatha, die früher ja Barackenälteste war, hat Plöger gesagt, Sie hätten den Arbeiterinnen russische Romane gegeben. Plöger lässt die Bücher alle einsammeln und ist außer sich vor Wut.«
22
Je müder Nadjeschka wurde, desto streitsüchtiger streckte der Nachtwald seine Äste nach ihr aus, riss mit Dornen an ihrer Kleidung, schrammte ihre Arme auf. Bodensenken schienen nur deshalb zu existieren, damit sie hineinfiel. Zweige peitschten ihr ins Gesicht wie zur Strafe für ihren Ungehorsam.
Der Gedanke an die Heimat hielt sie aufrecht. Sie dachte an die Eltern, an die Geschwister, stellte sich vor, wie sie einen
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