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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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war der Versammlung ferngeblieben.
    Während die Bierkrüge verteilt wurden und sich palavernde Grüppchen bildeten, schlich er sich hinaus. Es war schon dunkel geworden. Aus dem Augenwinkel sah er eine Zigarettenspitze aufglühen.
    »Hat Ihnen die Rede nicht gefallen?«, sagte jemand.
    Er kannte diese Stimme. Fröstelnd drehte Georg sich um.
    Wiese trat in den Lichtkegel des Rathausfensters. »Sie wollen schon gehen?«
    »Ich habe noch Büroarbeiten zu erledigen.«
    »Vielleicht kann Ihnen ja die rothaarige Ostarbeiterin helfen. Sie spricht gutes Deutsch, nicht wahr? Und soll auch sonst viele Vorzüge haben.«
    Ihm stockte das Blut in den Adern. Der Mann hatte ihn in der Hand, und einer wie Wiese würde keine Skrupel haben, diesen Vorteil auszureizen bis zum Schluss. »Was wollen Sie von mir?«
    »Ein paar Mark wären ein guter Anfang.«
    »Ich habe nichts Verbotenes getan. Die Ostarbeiterin ist Barackenälteste, ich bin laut Lagerordnung befugt, ihre Arbeit mit freiem Ausgang und anderen Vergünstigungen zu belohnen.«
    »Dann haben Sie ja nichts zu befürchten.« Die Augen des Blockwarts funkelten. »Ich gehe mal wieder rein. Ist eine nette Gesellschaft, viele Parteigrößen, auch einige von der SS und der Gestapo. Nützliche Leute! Das eine oder andere Gespräch wird sich bestimmt ergeben. Ich darf doch erzählen, wie gut es bei Ihnen im Lager läuft?« Er wandte sich ab.
    »Warten Sie.«
    Mit siegesgewissem Lächeln drehte sich der Blockwart um. »Oder soll ich besser den Mund halten?«
    »Für wie lange kaufe ich mir Ihr Schweigen?«
    »Für heute Abend.«
    Er holte das Portemonnaie hervor und sah nach, wie viel er dabeihatte. »Wenn ich Ihnen zehn Mark gebe, schweigen Sie eine Woche.«
    »Wenn Sie mir zehn Mark geben, schweige ich heute.«
    Sie maßen sich mit Blicken. Dieser Hundsfott wusste genau, dass alle Druckmittel in seiner Hand lagen. Wütend zählte ihm Georg das Geld in die Hand.
    Wiese steckte die Scheine ein. »Ich behalte Sie im Auge. Viel Spaß mit der süßen kleinen Schnepfe!« Er grinste anzüglich, bevor er in den Saal zurückkehrte.
    Auf dem Weg nach Hause zitterte Georg wie ein nasser Hund. Dieser Wiese würde ihn über kurz oder lang an den Galgen bringen. Ein paar Tage konnte er ihn noch hinhalten, aber bis er herausgefunden hatte, wo man falsche Pässe herbekam, würde Wiese seine Reserven bereits leergemolken haben, und dann blieb kein Geld übrig für die Pässe und die Flucht. Sobald er ihm nichts mehr zustecken konnte, würde der Blockwart ihn, ohne zu zögern, ausliefern.
    Wie kann ich mich retten?, fragte er sich. Gab es etwas, um Wiese im Gegenzug zu erpressen? Dann hätten sie sich gegenseitig im Griff und konnten Stillschweigen für Stillschweigen vereinbaren.
    Jeder Mensch besaß ein dunkles Geheimnis. Selbst Axel, der Vorzeige-Gestapomann, war angreifbar. Anneliese hatte ihm von seiner Luminalsucht erzählt. Vor ein paar Monaten war es so schlimm gewesen, dass dem Schwager die Lider flatterten und er kaum noch gehen konnte, die Schwester hatte schon gefürchtet, ihn ins Krankenhaus bringen zu müssen.
    Irgendwie musste er in Wieses Privatleben eindringen. Ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Er lief zu Wieses Haus in der Burgstraße. Mit klopfendem Herzen sah er zu den dunklen Fenstern der Wohnung hinauf. Er steckte sowieso schon so tief im Schlamassel, dass er nichts zu verlieren hatte, er musste das Risiko eingehen.
    Wie ein Spaziergänger schlenderte er weiter. In einem Vorgarten fand er große Schmucksteine. Nach einem raschen Blick zu den Fenstern – die Gardinen hingen still – bückte er sich, nahm einen der Steine und machte kehrt. Er klingelte zweimal bei Wiese. Die Nachbarn mussten das Geräusch hören. Dann klingelte er bei Familie Schmöck. Ein Kind kam die Treppe herunter, er hörte es bei jedem Absatz springen, dann riss es die Tür auf, prallte zurück vor Schreck, sah ihn mit großen Augen an. Es hatte offenbar jemand anderen erwartet.
    »Will nur was einwerfen«, sagte er. Das Haus besaß keine Briefkästen, nur Briefschlitze in den Türen. Er nickte zur untersten Tür hin.
    »Ach so.« Der Junge zog sich zurück.
    Georg folgte ihm ins Haus und die Treppe hinauf, ging bewusst langsam und ließ ihn davonlaufen. Er lauschte, bis oben die Tür zuklappte. Dann machte er kehrt und schlich sich zur Hintertür. Er öffnete sie leise, legte den Stein in den Spalt, und schlich zurück zur Vordertür. Falls der Junge seinen Eltern von seinem seltsamen Besucher

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