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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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geradewegs in die Arme. Auf der anderen Seite des Sees konnten sie sich ein Versteck suchen und die nächste Nacht abwarten. Blieb zu hoffen, dass die Flakbesatzung nicht über ihre Flucht informiert worden war. »Wenn die Jungs zudringlich werden, nutzen wir das als Vorwand, um zu gehen«, sagte sie und betrat die über den Damm führende Straße.
    Oksana lachte nervös. »Bei mir werden die bestimmt nicht zudringlich. Die reißen sich um dich.«
    Am Straßenrand waren Baumattrappen aufgestellt, simpel zugesägte und bemalte Tannenbäume. Vermutlich sollten sie die Mauer aus der Luft wie ein gewöhnliches Ufer aussehen lassen.
    Männer winkten vom Dach des ersten Turms. Und unten trat einer aus der Tür. »Willkommen im Flaksanatorium Möhnesee.« Er grinste. Er war höchstens achtzehn Jahre alt. »Wollt ihr raufkommen zu uns? Das gibt einen schönen Ausblick!«
    »Danke«, sagte Nadjeschka, »aber wir wollten nur über die Mauer spazieren.«
    Der junge Flaksoldat stutzte. »Wartet mal …« Er runzelte die Stirn. »Fritz?«, rief er hoch zum Turm.
    »Das sind die Frauen«, rief der von oben. »Halt sie fest!«
    Nadjeschka warf sich herum. Sie rannte zurück, packte Oksana am Arm, zog sie mit sich. Vom Anfang der Mauer kamen ihnen die zwei Männer vom Objektschutz entgegen. Sie blieb stehen. Zog sich die Jacke aus. Mit einem großen Schritt war sie am Rand der Mauer. Sie sprang.
    Der Möhnesee war kälter als erwartet, es zog ihr die Haut zusammen. Trotzdem tauchte sie unter und schwamm von der Mauer weg. Sie hörte ein Aufklatschen, jemand verfolgte sie. Oder war Oksana gesprungen?
    Sie tauchte so lange, bis ihr die Atemnot fast die Sinne raubte. Noch einen, noch zwei Züge. Dann musste sie hoch. Sie schnappte nach Luft. Dicht hinter ihr schwamm einer der Soldaten.
    Sie musste schneller sein als er. Zum Glück hatten ihr die Brüder das Kraulen beigebracht. Sie schwamm, was das Zeug hielt, merkte aber bald, dass ihre Kräfte an vergangene Zeiten nicht annähernd heranreichten. Das wochenlange Hungern machte sich bemerkbar. Bald wurde ihr schwarz vor Augen, sie konnte nicht mehr.
    Der Soldat fasste nach ihr. »Komm, Mädel. Das ist doch zweck los.« Beinahe liebevoll zog er sie zurück zum Ufer, schleppte sie eine eiserne Treppe hinauf, andere halfen. Draußen sagte er lachend: »Wenigstens mal eine Abwechslung im Dienst.«
    Weitere Soldaten hatten sich eingefunden. Unverhohlen begafften sie ihren Körper, der sich unter der nassen Kleidung abzeichnete.
    Der Schnauzbärtige hielt seine Pistole auf Oksana gerich tet. »Hab ich mir gleich gedacht, dass mit euch was nicht stimmt. Die Jacken sind linksrum gedreht, guckt mal.« Er wendete eine. »Da!« Triumphierend hielt er das Ostarbeitersymbol hoch. »Hab ich’s nicht gesagt? Die sind ausgebüxt.«
    »Hätte doch sein können, dass sie Russlanddeutsche sind«, verteidigte sich der andere.
    Jetzt kam der Offizier der Soldaten hinzu.
    »Leutnant Widmann«, meldete der Schnauzbärtige im Militärton und knallte die Hacken zusammen. »Melde, zwei entflohene Ostarbeiterinnen gefangen gesetzt zu haben.«
    Der triefend nasse Soldat lachte. Aber er stellte die Sache nicht richtig. Das war nicht notwendig. Jeder sah, dass er sie aus dem Wasser geholt hatte.
    »Rühren«, sagte der Leutnant. »Man hat uns die Damen schon vorgemeldet.« Er nahm Nadjeschkas Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen und zwang sie, ihn anzusehen. »So ein dreistes Steppenmädchen. Na, die Gestapo wird schon wissen, was sie mit euch anfängt.«
    Sie schluckte. Wie hatte sie glauben können, diesem Volk von Menschenjägern durch die Lappen zu gehen? Und Oksana hatte sie mit hineingerissen. Sie würde ihre Kinder niemals wiedersehen, ihretwegen. »Es war meine Idee«, sagte sie. »Ich hab diese Frau gezwungen, mit mir zu gehen, sie wollte das gar nicht. Bitte, lassen Sie sie ins Lager zurückkehren.«
    »Halt den Mund.« Der Leutnant warf ihr einen eisigen Blick zu. »Name?«
    »Nadjeschka.«
    »Eine Frechheit, so zu antworten! Du sagst jetzt: Ich bin die Russin Nadjeschka.«
    »Ich bin Ukrainerin.«
    »Willst du aufsässig werden? Wenn ich von minderwertiger Rasse wäre wie du, dann würde ich jetzt tun, wie mir befohlen wurde.«
    Er würde sie schlagen, falls sie ein weiteres Widerwort gab, das wusste sie. Und es machte alles nur schlimmer. »Ich bin die Russin Nadjeschka.«
    »Eine Schande, dass du Deutsch sprichst. In deinem Slawenmund haben deutsche Wörter nichts zu suchen. Ich möchte nicht noch

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