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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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erzählte, sahen sie ihn vorn rausgehen und die Straße entlang verschwinden.
    Er drehte eine Runde um den Block, kam von der anderen Seite wieder. Immer noch waren Wieses Fenster dunkel. Durch das Hoftor schlich er sich von hinten an das Haus heran. Niemand hatte seinen Stein bemerkt, wie es schien. Vorsichtig öffnete er die Hintertür und trat ins Haus. Er machte kein Licht im Treppenflur. Eine Weile musste er warten, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnten; die Gaslaterne von der Straße schien nur kümmerlich hinein. Dann ging er die Treppe hinauf und las die Namensschilder, bis er die richtige Tür gefunden hatte.
    Er zog seinen Schlüsselbund hervor und fühlte nach dem dünnsten Schlüssel, den er besaß. Keiner war flacher als der Schlüssel des Büros im Barackenlager. Er versuchte, ihn in den Türspalt zu zwängen, doch der war zu schmal. Was jetzt? Ein Draht, ein Stück Blech musste her.
    Er tastete seine Hosen- und Hemdtaschen ab, nicht einmal einen Bleistift trug er bei sich. Vielleicht half die Brille? Er nahm sie ab und schob ihren Bügel zwischen Tür und Rahmen. Der Bügel passte hindurch. Nur war er stabil genug, um die Tür zu öffnen? Vorsichtig zog er mit dem umgebogenen Ohrenstück des Bügels am Schnappriegel. Er rutschte immer wieder damit ab. Ich mach mir meine teure Brille kaputt, dachte er.
    Verzweifelt steckte er den Bügel tiefer hinein, bis zum Brillenglas, und zog. Er spürte es, der Schnapper gab nach, bloß noch ein Stück, ein winziges Stück … Die Tür öffnete sich. Er hatte seine Brille verbogen, aber die Tür zu Wieses Wohnung stand offen. Der Geruch von Mottenkugeln schlug ihm entgegen.

21
    Leise schloss er die Wohnungstür hinter sich. Die Glocke der Michaelskirche schlug. In Wieses private Räume einzudringen war mehr als gewagt – der Blockwart würde toben vor Wut, wenn er davon erfuhr. Auch du bist nicht unverwundbar, mein Lieber, dachte er. Ich muss nur deine Schwachstelle finden. Wie du mir, so ich dir … Du hast Eva bei mir reingelassen, und jetzt besuche ich dich.
    Jeden Tag würde Wiese mehr Geld verlangen, bis das Angesparte aufgebraucht war, und ihn anschließend der Gestapo ausliefern. Das hier war seine einzige Chance.
    Er schaltete eine Stehlampe im Schlafzimmer ein. Das Bett war zerwühlt, Ulrich Wiese lebte allein, für wen sollte er das Bett machen? Er hatte nicht wissen können, dass er heute anonymen Besuch bekam. Auf dem Nachttisch lagen zwei Briefe, einer davon ein modernes Fensterkuvert, wie es die Banken verwendeten, der andere schlichter mit braunen Zensurstreifen. Die wacklige Handschrift der Adresse ließ auf einen älteren Absender schließen. Dass Ulrich Wiese genauso von der Zensur überwacht wurde wie sie alle, erstaunte ihn. Offenbar machten die keinen Unterschied, öffneten auch die Briefe ihrer Gehilfen.
    Er legte die Post zurück. Das war nicht, was er suchte. Zurück im Flur fand er die Badezimmertür, öffnete sie und schaltete das Licht ein. Vor dem Spiegel stand eine Dose Zahnpulver. Der Blockwart putzte noch mit Schlämmkreide? So alt war er ihm gar nicht vorgekommen. Er hätte erwartet, dass Wiese längst Zahnpaste verwendete. Salbei und Minze , stand auf der Dose, Zahnpulver auf die feuchte Zahnbürste streuen. Vermutlich konnte sein Peiniger nicht mit den weichen Metalltuben umgehen, er brauchte noch den vorsintflutlichen Topf.
    Der Boden glänzte, er war nass. Wiese musste sich vor der Ortsversammlung gewaschen haben, hatte sich aber nicht die Mühe gemacht, trockenzuwischen. Georg hob ein Paket Sei fenpulver hoch. Der durchweichte Boden brach, und der Inhalt der Packung ergoss sich über seine Hose. Fluchend stellte er sie zurück. Die Pappschachtel thronte nun auf einem weißen Pulverberg.
    Wie lange würde sein Widersacher bei der Ortsversammlung bleiben? Hatte er Gesprächspartner, die ihn länger beanspruchten, sah er sich den Lichtbildervortrag bis zum Ende an? Wenn er ihn hier erwischte und die Schutzpolizei rief, bevor er eine kompromittierende Entdeckung gemacht hatte, konnte ihm selbst Axel nicht mehr helfen.
    Er betrat das Wohnzimmer. Eine Kuckucksuhr hing über dem Plüschsofa, mit bronzenen Tannenzapfen als Gewichte an den Ketten. Auf einem Tischchen standen Porzellanfiguren, Tänzerinnen mit Tüllröckchen.
    Das Barometer an der Wand ließ ihn zusammenfahren – das gleiche hing bei ihm zu Hause! Ein seltsames Gefühl der Verbindung mit dem tückischen Wiese beschlich ihn. In seinen vier Wänden war der

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