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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Schnüffler auch nur ein gewöhnlicher Mensch. Andererseits schrieb er an diesem Schreibtisch Berichte, die Menschenleben vernichteten, über illegales Radiohören, Personen, die den Hitlergruß verweigerten, Nachbarn, die an Feiertagen nicht die Hakenkreuzfahne aus dem Fenster hängten oder, wie er, nur widerwillig spendeten. An diesem Schreibtisch spielte er Gott. Oder genauer: Luzifer, den Ankläger.
    Er öffnete die oberste Schublade und nahm eine Mappe heraus. Als er sie aufschlug, stutzte er. Lauter Bilder von Männern, herausgerissen aus Zeitschriften, Werbeanzeigen: Ein Mann im feinen Anzug, ein anderer vor dem KdF-Wagen. Ein Mann in Uniform. Zwei Bauarbeiter, die in die Kamera lachten. Ein Mann mit einem Diamant-Fahrrad. Einer, der Abdullah-Zigaretten rauchte. Beim nächsten Foto schoss ihm das Blut ins Gesicht. Ein nackter Mann! Diesmal nicht aus einer Zeitung, sondern ein Foto auf dickem Papier. Danach noch eines, ein weiterer unbekleideter Mann. Und ein dritter.
    Im Treppenhaus pfiff jemand die Melodie »Ich wollt’ ich wär ein Huhn«. Die Bilder, was bedeuteten sie? War Wiese etwa ein Homosexueller, ausgerechnet dieser Nazi, wo die Nationalsozialisten diese doch so streng verfolgten?
    Ein Schlüssel knirschte in der Wohnungstür. Georg fuhr zusammen. Er warf die Mappe auf den Tisch. Rannte zum Fenster.
    »Ist da jemand?«, fragte der Blockwart aus dem Flur.
    Georg riss das Fenster auf.
    »Sie!« Wiese stand in der Wohnzimmertür.
    Er war unfähig, sich zu bewegen. Kletter auf den Sims und spring!, befahl er sich, aber der Blick des anderen hielt ihn fest.
    »Was haben Sie in meiner Wohnung zu suchen?«
    Der Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren, ein jagendes, dumpfes Klopfen. Er überlegte, an Wiese vorbeizurennen und durch das Treppenhaus zu entkommen. Das war besser, als sich beim Sprung ein Bein zu brechen und wehrlos auf der Straße zu liegen, bis die Polizei kam.
    »Dass Sie geizig sind, wusste ich. Aber ein Dieb? Sie überraschen mich. Die Parteiunterlagen …« Er sah die Mappe auf dem Schreibtisch, wurde rot, dann weiß um die Nase. »Sie haben«, brüllte er und japste nach Luft, »Sie haben hier nichts zu suchen!«
    Dieser Wutausbruch verriet ihn endgültig. Offenbar habe ich gefunden, was ich brauche, dachte Georg: ein Druckmittel. Er ging zurück zum Schreibtisch und legte die Hand auf die Mappe.
    Sofort verstummte der Blockwart, er schluckte. Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    »Sehen Sie«, sagte Georg, »so verschieden sind wir gar nicht. Wir beide lieben jemanden, den wir nicht lieben dürfen.«
    Wiese schwieg.
    »Schließen wir einen Handel. Lassen Sie mich in Frieden, und ich lasse Sie in Frieden. Ich vergesse, was ich gesehen habe, und Sie tun es ebenfalls. Damit ist uns beiden gedient.«
    Was, wenn der Lump die Bilder verbrannte und ihm danach umso ärger zusetzte, damit er den Mitwisser ausschaltete? Er hatte keine Augenzeugen, während Wiese durchaus welche finden konnte, wenn er nur lange genug in der Stadt herumfragte. Die Polizei würde dem Blockwart glauben, während man seine Behauptung als Versuch werten würde, von seiner eigenen Schmach abzulenken.
    Er schlug die Mappe auf und zog eines der Nacktfotos heraus. Sicher waren Wieses Fingerabdrücke darauf. »Das nehme ich mit. Zur Sicherheit.«
    »Legen Sie das Bild zurück«, sagte Wiese. Er klang seltsam tonlos.
    »Nein.« Er steckte es sich unter das Hemd. Ging auf Wiese zu.
    »Bleiben Sie sofort stehen! Oder ich rufe die Polizei.«
    »Das werden Sie nicht tun. Wollen Sie, dass die sich hier genauer umschauen? Sie wissen genauso gut wie ich, dass Sie im KZ landen würden.« Er schob sich an Wiese vorbei.
    Der Blockwart versuchte nicht einmal, ihn aufzuhalten. Er stand einfach nur da, käseweiß im Gesicht, und sah ihm nach.
    Obwohl sie kaum einen Meter weit sahen, kamen sie gut voran. Der Feldweg führte zuerst hügelan, dann entlang des Kamms zwischen finsteren Waldsäumen. Aus dem Wald wehte Kühle. Jedes Mal, wenn Nadjeschka ein Knacken hörte, fuhr sie zusammen. »Meinst du, es gibt hier Bären?«, fragte sie.
    »Bestimmt nicht. Wildschweine vielleicht.«
    Nadjeschka fasste nach ihrem Arm. »Wie lange sind wir unterwegs, was schätzt du?«
    »Eine Stunde oder anderthalb.«
    »Jetzt wissen sie, dass wir ausgebrochen sind. Es gibt kein Zurück mehr.« Das linke Bein schmerzte immer noch vom unablässigen Betätigen des Pedals in der Fabrik, und ihre Augen lider brannten. Aber die Angst vertrieb alle Müdigkeit. »Je

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