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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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nach dem anderen umarmte. Man würde ihre Rückkehr feiern. Mutter würde Borschtsch kochen mit roten Rüben, Zwiebeln, Weißkohl, Karotten, Kartoffeln und Tomaten. Der Topf würde so voll sein, dass man einen Holzlöffel hineinstellen konnte, ohne dass er umkippte. Zur Feier des Tages würde sie etwas Rindfleisch dazugeben. So deutlich malte sie sich das Festessen aus, dass sie es riechen konnte. Sie glaubte sogar das Lachen ihrer Brüder zu hören, das fröhliche Singen ihrer kleinen Schwester.
    »Jeder Schritt bringt uns der Heimkehr näher«, sagte sie.
    Oksana sagte: »Wollen wir nicht lieber zum Weg zurück? Im Wald knacken dauernd Äste, das macht uns auffällig. Bald wird es Morgen. Es könnten schon Leute wach sein.«
    Tatsächlich kamen sie im Wald nicht voran, es war mehr ein Tasten und Stolpern, so würden sie es nie schaffen. »Einverstanden.«
    Zurück auf dem Weg schwiegen sie lange. Jede war mit ihren Gedanken allein. Vermutlich dachte Oksana an ihre Kinder oder, ihrem missmutigen Gesicht nach zu urteilen, an die Strapazen und Gefahren der Reise dorthin.
    Ein Vogel weckte den Wald auf mit seinem Jubilieren. Immer mehr Vögel fielen ein in den Gesang, bald zwitscherte und tirilierte es überall. Die Sterne verblassten. Nadjeschka fühlte sich, als würde sie aus einem Albtraum erwachen.
    Am Waldrand stießen sie auf ein Seeufer. Schilfrohre wiegten sich im Morgenwind, Binsen raschelten, und Teichrosen hielten wie im Schlaf ihre Knospen geschlossen. Aus der Ferne hallte das Krähen eines Hahns herüber, andere Hähne antworteten. Sie atmete tief ein und aus. »Riechst du das?«, fragte sie. »Das ist die Freiheit.«
    Oksana lachte. »Das ist ein See.«
    »Ja, und wir würden jetzt nicht hier stehen, wenn wir nicht frei wären.« Die anderen nahmen vermutlich gerade Aufstellung auf dem Platz und marschierten zur Fabrik. Sie taten ihr leid.
    Seeschwalben flogen über das Wasser dahin, riefen ihren Fernwehschrei. Unwillkürlich dachte sie an die Möwen bei Odessa. Bald hör ich sie wieder streiten, wenn die Fischer ihre Abfälle ins Meer werfen. Dann werde ich an diesen Moment zurückdenken, als die gefährliche Reise noch vor uns lag. Sie zog den bläulichen Stein hervor und küsste ihn.
    Ein Haubentaucher schwamm vorüber. Plötzlich verschwand er, sie suchte mit den Augen die Wasserfläche ab, lächelte, weil sie dieses Spiel früher als Kind oft gespielt hatte. Sie zeigte mit der Hand in eine Richtung. Da tauchte der Vogel wieder auf, ganz woanders.
    »Lass uns weitergehen«, drängte Oksana.
    Der See war eine endlose Fläche, kilometerlang zog er sich hin. »Nur noch einen kleinen Moment. Bitte.« Am Horizont erschienen die ersten Sonnenstrahlen über dem Wasser, sie sprangen von Welle zu Welle, bis das Tageslicht den halben See erfasste. Die Fülle fließenden Lichts zwang Nadjeschka, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzukneifen.
    Die gleiche Sonne bescheint unser Haus in der Ukraine, dachte sie. Sie wärmt das Sonnenblumenfeld und meinen Brüdern den Nacken. Was die Sonne heute alles sieht! Sie leuchtet in Schwedens Fjorde, lässt das Wasser der Arktis glitzern, küsst den Raureif Sibiriens.
    Ich denke ganz anders, wenn ich frei bin. Nadjeschka lächelte. Mein Kopf braucht einfach die Freiheit. Der Krieg, das Hin-und-her-Gewoge der Heere, nichts kann die Sonne daran hindern, der Tier- und Pflanzenwelt ihre Wärme zu spenden, gerecht verteilt auf alle Länder.
    »Komm jetzt.« Oksana drängelte.
    Ein Schwanenpaar schwamm am Ufer entlang, Seite an Seite. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Georg hatte sie aufgeben müssen. Es wäre nie etwas geworden mit uns, sagte sie sich. Aber das Herz ließ sich nicht so leicht trösten, es sehnte sich nach ihm. »In Ordnung«, sagte sie, »rechts oder links entlang?«
    »Wir hätten uns vorher eine Karte beschaffen sollen. Ich weiß nicht, welcher der richtige Weg ist. Das muss der Möhnesee sein, nach allem, was ich gehört habe, aber ich bin noch nie hier gewesen.«
    Aller Logik nach mussten sie nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Genau damit würden ihre Verfolger rechnen. Sie wandte sich nach links. »Gehen wir hier rüber, in Richtung Westen, und erst auf der anderen Seite Richtung Heimat.« Sie wanderte los.
    Bald kam ein Angler in Sicht, er stand bis zu den Knien im Wasser und hielt still seine Angel. Oksana raunte: »Lass uns in den Wald abhauen.«
    »Nein«, widersprach sie, »der hat uns schon bemerkt, das lässt ihn nur Verdacht

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