Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
schöpfen, wenn wir ihm ausweichen.«
    Tatsächlich sah er sich nach ihnen um. Er nickte stumm zum Gruß.
    Sie winkten zurück und spazierten vorüber. »Siehst du«, flüsterte sie, »man muss nur selbstbewusst sein. Die können doch gar nicht wissen, dass wir entflohene Ostarbeiterinnen sind.«
    »Wir sollten uns lieber verstecken!«, mahnte Oksana.
    »Nur noch ein kleines Stück.«
    Das Westufer des Sees bestand aus einer Mauer. Sie ragte kaum einen Meter aus dem Wasser, aber dahinter schien eine Schlucht zu folgen. Zwei Türme thronten auf der Mauer. Ihre Kupferdächer waren abgeschnitten, die Plattformen trugen Flugabwehrgeschütze. Was verteidigten die Deutschen hier? Den See? Das Tal dahinter?
    Die Mauerkrone war breit, eine Straße führte auf ihr hinüber zum anderen Seeufer. »Da gehen wir besser nicht lang«, sagte sie. »Ich wette, dass die Wachposten bei den Geschützen Telefone haben. Die wissen Bescheid.«
    Oksana stimmte ihr zu. Also kletterten sie im Wald den Berg hinunter, neben sich die gewaltig aufragende Steinwand, die den See hielt. Was eben noch wie ein kaum mannshoher Wall ausgesehen hatte, war von der anderen Seite betrachtet ein in den Himmel hinaufragendes Bauwerk. Ins Tal darunter schmiegte sich ein Dorf.
    Oksana schnaufte. »Lass uns an der Mauer entlang auf die andere Seite gehen«, japste sie. »Und dann suchen wir uns ein Versteck.«
    Ein scharfer Ruf drang durch den Wald. »Stehen bleiben!« Zwei Uniformierte rannten auf sie los. »Was haben Sie hier zu suchen?«
    Offenbar bewachten die Polizisten etwas. Sie hatten Augenringe, also hatten sie die Nacht über Dienst geschoben und womöglich noch nichts von ihrer Flucht gehört. »Wir sind …«
    Oksana fiel ihr ins Wort: »Wir wollten uns die Talsperre ansehen. Ist das nicht erlaubt?«
    »Ihre Ausweispapiere«, sagte der Schnurrbärtige streng.
    »Die haben wir zu Hause gelassen. Wir sind aus Neheim«, erklärte Nadjeschka.
    »Da müssten Sie ja mitten in der Nacht losgewandert sein!« Er sah sie skeptisch an. Seine Hand legte sich auf den Lederverschluss der Pistolentasche.
    »Sind wir auch. Nachher zur Arbeit müssen wir zurück sein.« Sie sah sich um. Wohin konnten sie rennen? Bergab am besten. Und unten ins Dorf. Dort musste es Verstecke geben. Aber wenn er auf sie schoss? Und Oksana, die würde nicht hinterherkommen. Konnte sie die Freundin im Stich lassen?
    »Wann wollen Sie wieder in Neheim sein?«
    »Mittags. Wir arbeiten bei Trögelkind & Winkler. Haben die Spätschicht.«
    Immer noch musterte er sie aufmerksam. »Also, hier unten klettern Sie jedenfalls nicht herum. Das ist Sperrgebiet.«
    »Wussten wir nicht.« Sie bemühte sich, einen Kleinmädchenblick aufzusetzen, machte große Augen. »Wirklich!«
    »Warum darf man hier nicht hin?«, fragte Oksana mit gespielter Neugier.
    »Das geht Sie nichts an«, blaffte der Schnurrbärtige.
    Der andere sagte begütigend: »Das Elektrizitätswerk und die Talsperre sind kriegswichtig. Der Feind könnte versuchen, sie zu sabotieren. Deshalb schieben wir Wache. Nehmen Sie die Kleinbahn, dann sind Sie schneller in Neheim. Elf Uhr fünfzehn geht eine.«
    Der Schnurrbärtige warnte: »Ich will Sie hier nicht wieder sehen, verstanden?«
    Lächelnd milderte der andere ab. »Gehen Sie rauf zu den Jungs von der Flak. Die freuen sich über netten Damenbesuch am Morgen. Die ganze Zeit nörgeln sie, dass sie keine Blitzmädels zugewiesen bekommen haben.«
    »Danke. Das machen wir.« Nadjeschka wollte weitergehen, am Fuß der Mauer entlang. »Wir gehen drüben rauf, ja?«
    »Haben Sie es immer noch nicht kapiert?«, herrschte sie der Schnurrbärtige an und stellte sich ihr in den Weg. »Sie haben das Sperrgebiet zu verlassen!«
    »Schon gut.« Durch die Bäume hindurch konnte man das Kraftwerk erahnen. »Verzeihen Sie.« Wohl oder übel mussten sie kehrtmachen.
    »Das war knapp«, sagte Oksana, als sie ein Stück hinaufge klettert waren. »Du hättest ihn nicht so herausfordern dürfen!«
    »Ich wollte auf die andere Seite. Wir müssen uns beeilen. Können von Glück reden, dass die neue Schicht noch nicht da ist von diesem Objektschutz. Die Nächsten, die hier Wache schieben, wissen garantiert von der Flucht.«
    Am besten gingen sie über die Mauer. Erstens konnte es sein, dass die Männer vom Wachdienst sie beobachteten. Wenn sie abhauten, machten sie sich verdächtig. Zweitens würden sie eine Stunde verlieren, wenn sie den Weg am See entlang zurückgingen, und liefen ihren Verfolgern

Weitere Kostenlose Bücher