Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
gedämpft. Ab und zu hörten wir von weit her ein Kinderlachen oder das Bellen eines Hundes. Schweigend gingen wir nebeneinanderher, gefangen von der majestätischen Stimmung dieses wunderbaren Stücks Natur und hingen unseren Gedanken nach. Trotzdem spürte ich eine seltsame Unruhe, je tiefer wir in den Wald hineingingen.
Irgendwann, nach etwa einer Stunde, blieb Barker stehen. »Sehen Sie da vorn das Schild, Ludmilla? Dort beginnt das Naturschutzgebiet. Es darf nicht betreten werden und ist deshalb eingezäunt. Man hat den Wald hier sich selbst überlassen und greift niemals regulierend ein. Es ist eine Art Urwald mit vielen seltenen Tierarten. Phantastisch, nicht wahr? Und das so nahe an der Stadt.«
Ich sah in die Richtung, in die Barker deutete, und erstarrte.
Das Blut scho ss mir ins Gesicht. Mein Herz raste. Ich hatte deutlich eine Stimme in meinem Kopf gehört! Und jetzt wieder. »Komm!« flüsterte die Stimme. Etwas sagte mir, dass sie aus dem Urwald jenseits des Zaunes kam.
»Was ist denn mit Ihnen?« Barker sah mich besorgt an.
»Professor, ich fühle sie. Die anderen. Dort im Urwald.«
»Ludmilla, wie können Sie so sicher sein?«
»Erinnern Sie sich, was ich Ihnen erzählt habe? Damals in der Stadt, da habe ich eine von ihnen gesehen und es sofort gespürt. Sie können offenbar Signale aussenden, wenn sie es wollen. Ich bin sicher, dass dort im Wald ein anderer Vampir ist.«
Barker sah mich an. Er schien zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder zu realisieren, auf was er sich überhaupt eingelassen hatte. Er war der Vertraute eines Monsters und gemeinsam mit diesem Wesen auf der Suche nach weiteren Monstern.
»Wie dem auch sei, Ludmilla«, sagte er, und seine Stimme klang unsicher. »Es wird dunkel. Wir gehen besser zurück zum Auto, sonst verlaufen wir uns noch. Kommen Sie.«
Ich blieb stehen und starrte auf den Teil des Waldes, der nicht betreten werden durfte.
»Ich bleibe noch, Professor. Ich will dort hinein.«
»Ludmilla, bitte. Lassen Sie uns nach Hause fahren.«
»Fahren Sie allein, Professor. Ich kann jetzt nicht weg.«
Barker stand unschlüssig herum und sagte nichts mehr. Wahrscheinlich dachte er, da ss er mich jetzt in dieser Situation nicht allein lassen konnte. Ich drehte mich zu ihm um, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte: »Professor. Vergessen Sie nicht, was ich bin. Schluss mit dem Gentleman-Getue. Ich bin keine junge, hilflose Frau, die man nirgendwo allein zurücklassen darf. Ich muss dort hinein. Ich habe so lange gesucht. Vielleicht irre ich mich auch. Aber wenn nicht, dann ist das hier nichts für Sie. Gehen Sie zurück zum Auto und fahren Sie in die Stadt.«
»Aber wie wollen Sie denn nach Hause kommen?« fragte er hilflos.
»Das ist unwichtig, Professor. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich melde mich bei Ihnen.«
Er nickte und ging langsam den Weg zurück zum Parkplatz. Nach ein paar Metern blieb er stehen und winkte. Ein besorgter, alter Mann. Ich winkte zurück, drehte mich um und ging auf den Zaun zu, der das öffentliche Gebiet vom Urwald trennte. Ich stieg mühelos darüber hinweg und sprang auf die andere Seite. Weiches Moos dämpfte meinen Fall. Vor mir lag die Wildnis – und vielleicht die Antwort auf alle meine Fragen.
24 - KONTAKT
Ich blieb reglos stehen und lauschte. Eine Flut von Geräuschen drang in meine Ohren. Überall aus der Wildnis ertönte leises Zirpen, Scharren und Zischeln. Der Urwald steckte voller Leben. Hektisches, verstecktes Leben, bemüht, sich im ständigen Kampf ums Überleben gegen andere zu behaupten. Doch es war natürliches Leben. Das Andere, Dunkle, Übernatürliche, das hier irgendwo verborgen war, konnte ich nur schwach wie ein Hintergrundrauschen spüren. Ständig präsent, aber verborgen und weiter entfernt. Vorsichtig drang ich tiefer in die Wildnis ein. Auf der anderen Seite des Zauns hatte es Wege, Hinweisschilder und Bänke gegeben, die zum Ausruhen einluden. Hier war alles wild und wuchernd, fast wie in einem tropischen Dschungel. Aber schließlich, nach einigem Umherirren, entdeckte ich eine Art Wildwechsel, einen nur mühsam auszumachenden Weg durch das Dickicht, auf dem ich jetzt einigermaßen gut vorankam. Immer wieder führte der natürliche Pfad um umgestürzte, moosbewachsene Bäume herum, die wie von Riesenhand gefällt am Boden lagen und scheinbar sofort von anderen Pflanzen überwuchert und vereinnahmt wurden.
Plötzlich raschelte etwas unter mir, und ich spürte eine Berührung. Entsetzt sprang
Weitere Kostenlose Bücher