Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
Kind. Aber nun hast du uns sogar selbst gefunden.«
Sie machte eine Pause und sah mich lange wortlos an.
»Aber es war doch Zufall, dass ich damals als Mensch auf dich traf.«
»Nichts, Ludmilla, war Zufall«, unterbrach sie mich. »Erinnerst du dich denn nicht?«
Sie stand auf, schritt auf mich zu und legte ihre kalte Hand mit den langen Fingernägeln auf meinen Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen.
Und dann kehrte die Erinnerung zurück.
Die Gestalt stand draußen im Garten. Bewegungslos. Groß und hager. Es war tiefe Nacht. Ein seltsames Leuchten, das aus dem Innern der Gestalt zu kriechen schien, warf ein weißliches, trübes Licht auf ihr Gesicht. Trotzdem konnte ich es nicht genau erkennen. Ich saß in meinem rosafarbenen Nachthemd auf der Fensterbank und starrte nach draußen. Ich war acht Jahre alt. Plötzlich hob die Gestalt wie zum Abschied den Arm und war verschwunden. Genau in dem Moment, als meine Mutter das Zimmer betrat. »Aber Ludmilla, was machst du denn um diese Zeit am Fenster. Ab ins Bett mit dir.«
Sie nahm mich auf den Arm und strich mir zärtlich übers Gesicht. »Sie sind wieder da gewesen«, antwortete ich. »Eine von ihnen war im Garten.«
»Ach, du wieder mit deinen Geschichten. Siehst immer Gestalten. Kind, da ist niemand. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Ich habe keine Angst vor ihnen, Mama. Nicht mehr. Sie werden mir nichts tun. Das weiß ich jetzt.«
Meine Mutter schüttelte nur den Kopf und steckte mich zurück ins Bett.
»Du kleines, seltsames Kind«, sagte sie, gab mir einen Ku ss und ging aus dem Zimmer.
Am nächsten Morgen konnte ich mich an nichts mehr erinnern.
Var nahm die Hand von meinem Kopf.
Ich blickte sie ungläubig an.
»Ja, Ludmilla«, sagte sie. »Wir haben viel Zeit, sehr viel
Zeit. Manchmal suchen wir uns schon sehr früh unsere Novizinnen aus und warten dann, bis die Zeit reif ist. Aber das Gesetz verlangt es, da ss sie nichts wissen. Ich habe dich erwählt, als du noch ein Kind warst, Ludmilla. Und dann, als wir eine Schwester verloren hatten, war deine Zeit gekommen.«
Die anderen Vampire wurden unruhig.
Var sah zu ihnen hinüber und murmelte: »Ja, zwanzig. Es müssen zwanzig sein.«
»Ihr habt jemanden verloren?« fragte ich.
»Ja, Victoria«, antwortete Var. »Sie starb bei einem Feuer in der Stadt. Vor über einem Jahr. Sie war… unvorsichtig. Sehr unvorsichtig. Aber genug davon.«
Sie schwieg.
»Darf ich jetzt Fragen stellen?«
Meine Stimme klang erbärmlich.
Var nickte.
»Warum ich?«
Sie lachte, und es hallte schauerlich von den Wänden zurück.
»Man sieht es, Ludmilla. Wenn man so alt ist wie ich, erkennt man es. Als ich dich auf meinen ruhelosen Wanderungen durch die Städte mit deinen Eltern in einem Park sah, war es, als ob du vor Energie und Kraft leuchten würdest. Ich wu sste sofort, dass du es schaffen könntest, eine von uns zu sein. Es gibt nicht viele, und ich irre mich nur selten. Ich habe dich beobachtet und war mir schließlich sicher.«
Ich dachte über ihre Worte nach und schauderte. Schon als Kind hatte sich also mein Schicksal entschieden.
»Warum gibt es keine Männer unter euch?« fragte ich schließlich, um das Thema zu wechseln.
»Männer!« Vars Stimme klang verächtlich. Ihre Augen wurden hart.
»Seit Jahrtausenden gibt es uns. Der Ursprung unserer Art liegt im dunkel der Zeit verborgen. Anfangs existierten wir nur in dem Teil der Welt, wo später die Pyramiden erbaut wurden. Wir haben stets im verborgenen gelebt. Frauen und Männer. Die Menschen ahnten, dass es uns gibt, oder wussten von unserer Existenz. Aber durch geschickte Tarnung konnten wir unter ihnen existieren und uns von ihnen ernähren. Und letztendlich war so alles im Gleichgewicht. Wie überall in der Natur, wo der Jäger und der Gejagte seinen Platz im Gefüge des Ganzen hat.
So ging es viele Jahre lang. Aber dann, in einer wirren Zeit, lange vor dem Beginn eurer Zeitrechnung, wollte eine Gruppe männlicher Vampire nicht länger im verborgenen leben. ›Wir sind stark, stärker als sie. Bekämpft und unterdrückt die Menschen‹, riefen sie, und nach und nach schlossen sich alle anderen männlichen Vampire ihnen an. Und sie wüteten schrecklich unter den Menschen. Sie fielen über ihre Siedlungen her und töteten wahllos. Nicht nur, um zu trinken, sondern aus Freude an der Vernichtung. Und vor allem: Sie erschufen immer neue Vampire. Damals kannte noch jeder Vampir das uralte Ritual.
Niemand weiß genau warum, aber die Frauen unter
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