Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
uns beteiligten sich nicht an diesem Wahnsinn. Sie warnten und verwiesen auf die Regeln der Alten, die uns stets auferlegt hatten, uns verborgen zu halten und unsere Zahl nicht zu stark anwachsen zu lassen. ›Haltet das Gleichgewicht‹ war eines der obersten Gesetze. Aber die männlichen Vampire waren nicht mehr zu stoppen. Sie wollten die Menschen wie Schlachtvieh halten und die offene Herrschaft über die Welt übernehmen. Doch sie hatten die Menschen unterschätzt.
Als deren Wut größer als ihre Furcht geworden war, taten sie sich zusammen und kämpften. Sie verglichen ihr Wissen über uns und entdeckten unsere Schwächen. Unsere Trägheit bei Tag und unsere Achillesferse: das Herz. Ja, Ludmilla, der Mythos des Vampirjägers, der dem untoten Blutsauger einen Pfahl durchs Herz rammt, geht auf einen wahren Ursprung zurück. Außer durch Feuer kannst du einen Vampir nur vernichten, indem du den Blutmuskel – das Herz – zerstörst. Und als die Menschen wu ssten, wie sie uns zerstören konnten, war es nur noch eine Frage der Zeit. Sie waren uns zahlenmäßig immer noch weit überlegen und töteten jeden Vampir, den sie finden konnten. Wir nahmen Tausende von ihnen mit in den Tod, aber schließlich endete diese Schlacht in grauer Vorzeit mit der Vernichtung fast aller Vampire. Natürlich schonten die Menschen auch die Frauen unter uns nicht. Nur einige wenige überlebten. Verborgen in Erdhöhlen, Wäldern und unwegsamen, einsamen Gegenden. Fast nur Frauen. Sie ernährten sich von Tierblut und wurden krank davon. Doch sie schafften es, und die Zeit half ihnen.
Die Menschen, die die Schlachten erlebt hatten, starben nach und nach. Unsere vampirischen Vorfahrinnen perfektionierten die Kunst der Tarnung und blieben Jahrhunderte im verborgenen. Wenn Menschen getötet wurden, dann nur in einsamen Gegenden und ohne Spuren zu hinterlassen. Es gab damals noch keine Schrift, nur mündliche Überlieferungen, und schließlich verbla sste die Erinnerung an uns und wurde zum Mythos.
Aber die Vampire hatten aus ihrer vernichtenden Niederlage gelernt. Schon kurz nach dem Ende des Krieges gegen die Menschen erließ die Gemeinschaft der Überlebenden neue, unumstößliche Gesetze. Die Hybris der Männer hatte uns ins Unglück gestürzt. Ihre Blutgier und ihr Machthunger. Die Frauen, verbittert durch ihre unwürdige Ex istenz, taten sich zusammen, fassten einen Beschluss und töteten die wenigen männlichen Vampire, die noch übrig waren. Und fortan galt das strengste und oberste aller Gebote, auf dessen Missachtung bis heute der Tod steht: Für alle Zeiten darf niemand mehr einen männlichen Vampir erschaffen. Dann beschlossen die Überlebenden, das Ritual, das neues, untotes Leben schafft, zum Tabu zu machen. In ferner Zukunft sollten nur noch ausgewählte Führerinnen wissen, wie und an welchen magischen Orten man unseresgleichen zeugt. Und so geschah es. Wir verteilten uns in kleinen Gruppen über die ganze Welt und gingen im wachsenden Heer der Menschen auf. ›Die Dunklen Schwestern‹ waren geboren worden. Einen dieser geheimen Orden siehst du jetzt vor dir, Ludmilla.«
»Bist du so alt?« fragte ich ungläubig.
»Nein, mein Kind«, sagte Var. »Wir werden sehr alt, aber niemand von uns ist unsterblich. Irgendwann, nach vielen hundert Jahren, kommt das Ende. Dann suchen die Alten den Tod, trinken nicht mehr, gehen ins Feuer oder zerstören ihr Herz. Irgendwann kommt für jede die Stunde. Manche sterben auch durch Unfälle oder eigene Schuld. Und die Lücke, die dann entsteht, schließen neue Vampire, die sorgfältig ausgewählt werden. Wir folgen damit nur dem ältesten Muster dieser Welt, Ludmilla. Wir erhalten unsere Art.«
»Wie viele von uns gibt es?« fragte ich.
»In diesem Kulturkreis besteht jeder Orden aus zwanzig Mitgliedern und einer Oberin. Diese Zahl hat sich bewährt. Die Opfer unter den Menschen sind begrenzt, und wir fallen nicht auf. Jeder Orden beherrscht ein großes Gebiet. Der nächste existiert Hunderte von Kilometern entfernt.«
Sie hielt inne.
»Aber genug jetzt. Mehr brauchst du zur Zeit nicht zu wissen. In den nächsten Monaten wirst du lernen, eine echte Vampirin zu werden. Du bist stark, aber du kennst nur einen Bruchteil deiner Fähigkeiten. Du mußt zum Beispiel lernen, wie man richtig jagt, ohne Spuren zu hinterlassen. Du musst lernen, gedankliche Impulse an deine Schwestern zu senden. Deine Sinne werden geschärft werden und somit deine Macht vergrößert. Du wirst regelmäßig
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