Nachtblauer Tod
Fisch das Zeug riecht und die Beute nicht annimmt. Die jungen Leute kaufen heutzutage ihre frischen Köder hygienisch verpackt in Dosen, bewahren sie im Kühlschrank auf und …«
»Danke, das reicht mir.«
»Es waren also ältere Leute. Ich schätze, sie waren über sechzig. Vermutlich die örtliche Rentnerband.«
»Ja«, sagte Schiller. »Oder ihre Enkel, die solche tollen Methoden von ihren Opis gelernt haben.« Sie bog ihren Rücken durch und fragte dann mehr sich selbst als Büscher: »Ist so etwas nicht strafbar?«
Er drehte ihr den Rücken zu und beobachtete eine Stelle im Wasser, wo kleine Fische sprangen und ein dunkler Hechtrücken sichtbar wurde. Es juckte ihn schon, seine Angel mal wieder auszupacken.
»Sollte es aber«, sagte sie.
»Häh, was?«
»Es sollte strafbar sein, habe ich gesagt.«
»Seine Frau umzubringen, das ist strafbar. Und wenn du mich fragst, hat Holger Schwarz genau das getan. Falls sein Sohn ihm nicht die Arbeit abgenommen hat. Dieses Alibi hier ist jedenfalls ein schlechter Witz. Ich war angeln, hier ist der Fisch …« Er klopfte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wir sind doch nicht plemplem!«
Es war, als würde Holger Schwarz’ Aussage ihn persönlich beleidigen. »Und überhaupt!«, schimpfte er. »Wieso fischt der hier an der Lune? Das ist doch ein Wiesenflüsschen! Es gibt viel bessere Angelplätze in Bremerhaven und Bremen.«
»Also«, flötete Schiller, »ich finde es hier romantisch.«
»Ja. Mag ja sein, dass dies hier für Romantiker ein wundervoller Ort ist und auch für Liebespaare, aber ich würde lieber an der Geest fischen oder …«
»Immerhin«, sagte Schiller anerkennend, »hat er hier soo einen Zander gelandet.«
Dazu sagte Büscher lieber nichts mehr.
9
Frau Dr. Stindl trug das hennarote lange Haar heute offen. Sie saß so, dass die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster ins Krankenzimmer fielen, sich in ihren Haaren verfingen und ihr eine Art leuchtenden Heiligenschein verliehen. Je nachdem, wie sie ihren Kopf bewegte, wechselten die Farben zwischen Kupfer, Gold und Sternenglanz.
Leon sah sie durch den medikamentenbedingten Nebel an und eine Gefühlswelle schwappte in ihm hoch. Sie spülte die Sehnsucht, einen geliebten Menschen in den Arm zu nehmen, in sein Bewusstsein.
Sofort war da ein tiefer Schmerz.
Seine Mutter war tot. Er öffnete den Mund und wollte diesen Satz aussprechen, wie eine Frage, um das Gegenteil heraufzubeschwören. Aber gleichzeitig schnürte ihm der Gedanke den Hals zu.
Er sah seine Mutter in ihrem Bett, aber nicht als blutüberströmte Leiche, sondern als glückliche Krimileserin mit einem dicken Buch in der einen und einem Stück Schokolade in der anderen Hand. Sie war ganz auf den Text konzentriert, und der Lichtkegel ihrer Leselampe zirkelte den Raum um sie ab wie eine Schutzhaut.
Warum, dachte er, hatte meine Mutter in dieser Nacht nicht so etwas gehabt wie einen Energieschirm, der in Science-Fiction-Filmen feindliche Raumschiffe abprallen ließ.
Er sah sie vor sich, wie sie im dunklen Blau der Nacht versank. Die Farbe verschluckte sie, so wie ihn damals das Eis, nur dass in ihrer Brust ein Messer steckte. Sie streckte die Hand nach ihm aus und sah ihn an. Sie war über ihm und wurde immer kleiner. Sie wurde eins mit dem Nachtblau des Sternenhimmels.
Er warf sich vor, nicht bei ihr gewesen zu sein. Er hätte sich dem Täter zum Kampf gestellt. Oh ja, er wäre bereit gewesen, sich auf Leben und Tod für seine Mutter einzusetzen. Er liebte sie so sehr, seine Mutter …
Er stellte sich vor, wie das Messer ihn traf, weil er sich zwischen sie und den Mörder warf. Der Schmerz machte ihm nichts aus. Kein Schmerz konnte so groß sein wie der, seine Mutter zu verlieren.
Frau Dr. Stindl streichelte über seinen linken Unterarm und hielt dabei seine Hand. Sie wirkte trotz des weißen Kittels nicht wie eine Ärztin, sondern mehr wie eine gute Freundin, eine altvertraute Verwandte, ja vielleicht gar wie eine Mutter.
Sie sprach ganz leise. »Ich muss dir etwas mitteilen, Leon. Es tut mir leid …«
Will die mir jetzt noch einmal erzählen, dass meine Mutter umgebracht wurde, dachte Leon verständnislos. Trotzdem füllten sich seine Augen mit Wasser, als ob er es gerade zum ersten Mal hören würde.
Sie fuhr stockend fort, dabei streichelte sie ihn immer hektischer. Es wurde unangenehm für ihn, aber er zog den Arm trotzdem nicht weg.
»Es wird sich bestimmt alles als Irrtum herausstellen. Ich wollte es dir nur
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