Nachtblauer Tod
gern selber sagen, damit du es nicht von irgendeiner unbekannten Person erfährst …«
Was denn, verdammt, was ist denn passiert, wollte er schreien. Kommen Sie doch endlich zur Sache! Aber er bekam kein Wort heraus. Er brach gerade wieder innerlich ins Eis ein. Er hörte es schon krachen und knirschen.
»Später kommt auch eine nette Dame vom Jugendamt. Ich habe schon mit ihr gesprochen. Die ist wirklich ganz in Ordnung …«
Leon hielt es kaum noch aus.
»Du wirst bestimmt auch psychologische Betreuung bekommen, und du musst dir keine Sorgen machen. Ein, zwei Tage kann ich dich noch zur Beobachtung hierbehalten …«
Sie sah ihm die Frage im entsetzten Gesicht an. Sie musste jetzt mit der Sache herauskommen. Plötzlich verstand sie, was damit gemeint war, wenn man sagte, jemand rede um den heißen Brei herum. Und dieser Brei war wirklich heiß.
»Die Polizei hat deinen Vater verhaftet.«
Die Eisschollen erhoben sich rechts und links neben ihm wie weiße Wände, und er glitt an ihnen entlang ins kalte Wasser, das aussah, als würden die Schlittschuhe hineinschneiden wie ein Fleischermesser.
»W … warum?«
Er hörte sich das sagen, aber die Antwort kam wie aus einem kaputten Radio. Frau Dr. Stindl war plötzlich sehr weit weg.
»Als Tatverdächtigen.«
»Sie verdächtigen meinen Vater, meine Mutter umgebracht zu haben?«
Sie nickte und senkte dabei den Blick. »Das heißt erst einmal noch gar nichts, Leon. Bestimmt stellt sich alles rasch als Irrtum heraus. Aber bis dahin …«
Leon wollte nicht unter der Eisdecke ersticken. Er krampfte sich in Frau Dr. Stindls Hand fest. Sie versuchte, sie ihm zu entziehen. Sie hatte Angst, er könne ihr die Finger brechen.
»Lass mich los! Hör auf! Du tust mir weh!«
Da packte Leon sie an der Gurgel und würgte sie: »Ich bringe diesen Kommissar um!«, schrie er. »Ich bringe ihn um!«
Es gelang Frau Dr. Stindl, den Alarmknopf zu drücken. Noch bevor ein Pfleger im Raum erschien, hatte Leon sie schweratmend losgelassen. »Wenn er mir auch noch meinen Vater wegnimmt, mach ich ihn kalt.«
Frau Dr. Stindl sah Leon schreckensstarr an und fragte sich, ob er das ernst gemeint oder die Medikamente ihn so rasend gemacht hatten.
Der Pfleger stand jetzt etwas hilflos im Türrahmen.
Dr. Stindl sagte: »Alles okay. Ich habe nur aus Versehen gedrückt.«
Er ging aber nicht. Er sah ihr an, dass sie log.
Sie strich sich den Kittel glatt und trat von Leons Bett zurück.
Der Pfleger trocknete seine feuchten Hände an den Hosenbeinen ab. »Sie werden in der Fünf gebraucht«, sagte er. »Da war ein Unfall am Hafen.«
Sie verschwand mit ihm. Leon lag wie angebunden im Bett und starrte die Tür an. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er lag nur, starrte auf die Tür und atmete. Sein rechter Fuß zuckte.
Dann, eine gefühlte Ewigkeit später, schob der Pfleger ein Bett ins Zimmer. Darin lag ein Mann.
»Das ist Herr Özdemir. Er kommt gerade aus dem OP. Er hatte heute einen Unfall. Sein linkes Bein ist viermal gebrochen. Aber er ist schon wieder ganz wohlauf.«
Warum erzählt der mir das alles?, fragte Leon sich.
Dann räumte der Pfleger Özdemirs Kleidung in den Schrank. Leon beobachtete ihn dabei.
»Guck nicht so doof, Arschloch!«, zischte der Pfleger plötzlich. »Du hast keinen Anspruch auf ein Einzelzimmer!«
Er warf Leon einen hasserfüllten Blick zu, und Leon kapierte, dass der Pfleger verliebt in Frau Dr. Stindl war.
10
Holger Schwarz saß beängstigend ruhig auf seinem Drehstuhl. Er berührte nur den äußeren Rand der Sitzfläche, als sei ihm der Stuhl zu heiß. Er stützte sich mit den Unterarmen auf der Tischplatte ab, die Hände wie zum Gebet gefaltet.
Kommissar Büscher wusste, dass Schwarz nicht betete. Er tat, als ob er ganz entspannt auf seine Hände gucken würde, aber in Wirklichkeit ließ er Kommissarin Schiller nicht aus den Augen. Er hatte so eine linkische Art, den Kopf zu senken und aus den Augenwinkeln zu schielen. Dabei schnaufte er, als ob er bei Darth Vader das Atmen gelernt hätte.
Büscher war dagegen gewesen, ihn mit Löckchen alleine im Verhörraum zu lassen. Er war nicht einmal fixiert.
Sie glaubte, ihn so besser zum Sprechen bringen zu können. Er sollte sich frei und ungezwungen fühlen, hatte sie gesagt. Frei und ungezwungen. In einem Verhörraum!
Natürlich ahnte Schwarz, dass sie beide beobachtet wurden. Jeder Idiot, der schon mal sonntagabends einen »Tatort« gesehen hatte, wusste, dass der große Spiegel an der
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