Nachtblauer Tod
vermutlich mit der Situation viel gelassener umgegangen. Solange seine Ma noch lebte, schienen Fischers immer irgendwie die besseren Eltern zu sein. Ben und Johanna hatten viele Freiheiten. Partys. Übernachten bei Freunden. Urlaubstrips.
Jetzt stellte Leon sich vor, seine Mutter würde noch leben. Sie, die belesene Krimiexpertin, hätte Fritz Brille vermutlich zunächst nach einem richterlichen Hausdurchsuchungsbeschluss gefragt.
»Hattest du Schiss, dass sie eure Kiffe finden, oder warum machst du hier so auf hysterisch?«, fauchte Johanna ihre Mutter an, als der schwergewichtige Polizist das Haus verlassen hatte.
Ulla Fischer öffnete den Mund stumm, wie ein an Land geworfener Fisch, der nach Luft schnappte.
Leon wusste, dass Ulla und Maik ab und zu einen Joint durchzogen. Johanna war total dagegen und fand es peinlich, kiffende Eltern zu haben. Ben fand es cool. Er sagte dazu manchmal: »Wir haben halt holländische Vorfahren.«
Leon wunderte sich, dass Ben immer noch schlief. Hatte er von dem ganzen Lärm nichts mitgekriegt, oder kam er nur nicht aus seinem Zimmer, weil er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte?
»Was habe ich nur in der Erziehung falsch gemacht, dass ich so eine spießige Tochter großgezogen habe?«, konterte Ulla Fischer.
Johanna warf ihre Haare nach hinten. Sie sah sehr streng aus. »Du hast dich Leon gegenüber total scheiße benommen, Mama!«, schimpfte sie.
»Ach, jetzt habe ich hier den Schwarzen Peter? Wer hat ihn denn bitteschön aufgenommen? Und wer war dagegen? Wer holt uns die Polizei ins Haus? Er oder ich?«
Immer noch lag der Brief unter dem Sofa. Leon wollte sich danach bücken, aber Johanna gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er besser warten sollte.
Ulla schickte jetzt mit scharfen Worten und großen Gesten ihre Tochter ins Bett. Johanna zog maulend ab. Dann zeigte Ulla Fischer auf Leon und drohte: »Wir zwei sprechen uns morgen!«
Sie schloss die Tür hinter sich, und Leon war wieder allein. Fast kam ihm das, was er gerade erlebt hatte, unwirklich vor. Aber da war der Brief, den Johanna für ihn gerettet hatte, und in seiner Tasche spürte er die winzige Kamera, die er aus der Wand gezogen hatte. Es war also tatsächlich passiert.
Er setzte sich nicht auf das Sofa, sondern in einer Ecke des Zimmers auf den Boden. Er zog die Knie an den Körper und fummelte den Brief aus dem Umschlag.
Mein Sonnenschein! Wieder neigt sich ein quälend langes Wochenende ohne dich dem Ende entgegen. Der Mensch, der sich mein Mann nennt, kommt mir merkwürdig fremd vor. Obwohl ich dich noch gar nicht so lange kenne, spüre ich doch: Du weißt viel mehr von mir als er. Du bist mir näher. Vertrauter. Aber sosehr ich dich auch liebe, ich kann Holger jetzt noch nicht verlassen. Ich will Leon ein Nest geben, bis er flügge geworden ist. Er soll erst in Ruhe Abitur machen, und dann, wenn er aus dem Haus ist, können wir ganz neu planen. Ich denke, Holger hält auch nur noch wegen Leon durch. Er interessiert sich schon lange nicht mehr für mich.
Sie sind nur wegen mir zusammengeblieben?
Leon wehrte sich gegen diese Schlussfolgerung. Es kam ihm fast vor wie eine Schuldzuweisung. Er wollte das nicht! Es war, als würde sein Leben und das seiner Eltern plötzlich umgelogen.
Er wurde sehr wütend auf seine Mutter. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals – zu ihren Lebzeiten – so sauer auf sie gewesen zu sein. Er erschrak über die Heftigkeit seiner eigenen Gefühle.
Da öffnete sich ganz vorsichtig die Tür. Johanna schwebte fast in den Raum, so leise war sie. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Sie hatte sich angezogen. Jeans und T-Shirt. Sie war barfuß. Sie machte kein Geräusch, aber Leon konnte ihre bettwarme Haut riechen. Sie setzte sich ungefragt zu ihm auf den Boden.
»Danke, dass du mir den Brief gerettet hast«, sagte er.
»Das hätte jeder getan«, antwortete sie.
Es gefiel ihm, dass sie versuchte, es runterzuspielen und dass sie kein großes Ding daraus machte.
»Der Brief hat dir aber offensichtlich gar nicht gut getan, Leon.«
»Hm. Es ist komisch, Liebesbriefe zu lesen, die die eigene Mutter ihrem Lover geschrieben hat.«
»Vielleicht sollte man so etwas besser nicht tun.«
»Ja. Vielleicht. Aber ich muss es. Ich brauche jede noch so kleine Information, um die Mordnacht zu begreifen.«
Johanna drehte gedankenverloren mit den Fingern Locken in ihre Haare. »Und – fündig geworden?«
Er schüttelte den Kopf und kaute auf der
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