Nachtblauer Tod
Unterlippe herum.
»Und was macht dich so fertig?«
Ohne zu überlegen, antwortete er: »Ich will einfach nicht schuld sein am Leben meiner Eltern. Sie haben sich das selber so ausgesucht. Angeblich ist meine Mutter nur wegen mir bei meinem Vater geblieben …«
»Au, Mann. Das ist wirklich hart.«
»Kannst du wohl sagen.«
Leon hielt es nicht länger aus, so still zu sitzen. Er musste sich mal wieder bewegen. Er stand auf und ging im Zimmer hin und her.
»Du rennst rum wie eine Wildkatze im Zoo.«
»So fühle ich mich auch. Eingesperrt in einen Käfig. Man füttert mich. Ich habe einen Schlafplatz. Ich werde medizinisch versorgt, aber … ich bin nicht frei.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor …«
Sie sah ihm zu, wie er durch den Raum tigerte, und nach einer Weile sagte sie: »Bist du echt da eingebrochen und hast die Briefe geklaut?«
Für einen Moment überlegte er, genau zu erzählen, wie es gewesen war, aber die Wahrheit klang so belanglos, fand er. Also antwortete er nur knapp: »Klar.«
Johanna sah sehr beeindruckt aus. »Krass!«, sagte sie. »Echt voll krass. Also, ich finde es gut. Wenn du den Mörder deiner Mutter jagst, darfst du dich nicht mit Kleinigkeiten aufhalten oder von Belanglosigkeiten behindern lassen.«
In ihren Augen war Leon heute Abend zum Helden geworden.
Er neigte plötzlich dazu, jetzt doch mit der Wahrheit, wie er an die Briefe gekommen war, herauszurücken, da fiel ihm wieder die winzige Kamera ein. Er zeigte sie Johanna.
»Das ist eine von den Kameras, mit denen Maik experimentiert.«
»Ja, sehe ich auch. Ich habe sie dort in der Wand gefunden. Ich dachte erst, es sei ein Insekt oder so.«
Johanna wollte nicht länger auf dem Boden sitzen und zu ihm aufschauen. Etwas an dieser Haltung gefiel ihr nicht. Sie sagte es: »Entweder, du setzt dich, oder wir gehen gemeinsam im Zimmer spazieren.«
Er lachte gequält. »Am liebsten würde ich noch ne Runde um den Block gehen. Ich habe so viel Adrenalin im Blut, ich kann sowieso nicht schlafen.«
»Meine Mutter rastet aus, wenn du noch mal durchs Fenster abhaust.«
»Ich fliege morgen sowieso bei euch raus.«
Johanna spitzte die Lippen. »Glaub ich nicht. Morgen hat die sich wieder beruhigt. Außerdem hält Maik zu dir, und ich auch.«
Er registrierte, dass sie bei der Aufzählung Ben vergessen hatte. Seinen alten Freund Ben!
»Ich komme mit«, sagte sie und öffnete das Fenster. Erst kletterte sie raus, dann kam er nach. Als sie gemeinsam ins Licht der Laterne traten, fragte sie: »Gehst du mit irgendeiner fest?«
Er verneinte heftig.
»Auch nicht mit Jessy?«
Leon lachte demonstrativ. »Ach, die!«, als sei das undenkbar. Dann fügte er hinzu: »Geht die nicht mit Ben?«
»Kann sein. Der hatte schon immer einen miesen Geschmack.«
Johanna nahm Leons Hand. Sie gingen ein Stück nebeneinander. Dann sagte Leon: »Du bist barfuß.«
»Na und? Besser barfuß als blöd.«
Er hoffte, dass sich das nicht auf ihn, sondern auf Jessy oder sonst wen bezog. Am liebsten hätte er Johanna an sich gedrückt und geküsst, aber er hatte bei den Fischers schon Probleme genug. So unterdrückte er den Wunsch und die aufwallenden Gefühle.
35
Am nächsten Tag flog Leon doch nicht raus. Die Wogen hatten sich wieder geglättet, und es war, wie Johanna prophezeit hatte. Maik hielt zu ihm. Er fand den »Diebstahl« der Briefe »heldenhaft«.
»Wenn es mehr solcher Jungs gäbe, sähe die Welt besser aus«, sagte Maik und klopfte Leon anerkennend auf die Schultern. Es war wie ein Ritterschlag vor der ganzen Familie.
Ulla Fischer hatte schmale Lippen und wirkte irgendwie verkrampft. Maik nahm ihre Hand und sagte: »Sieh das mal so, Ulla. Leon kämpft hier um seine Familie. Er will seinen Vater raushauen. Er sieht sich mit großer Ungerechtigkeit und einem ungeheuren Verdacht konfrontiert. Er will nicht aufgeben. Er ist ein Kämpfer. Er verdient unsere Achtung und unseren Respekt. Wenn ich so einen Jungen hätte, ich wäre stolz auf ihn. Dass man zu den Seinen hält, gerät heute immer mehr in Vergessenheit. Alle jammern nur über ihre Ursprungsfamilie.« Er deutete auf Ben und Johanna, ohne Ullas Hand loszulassen. »Lasst uns Leon zum Vorbild nehmen! Einer für alle. Alle für einen.«
»Die drei Musketiere«, sagte Ben.
Johanna lachte, und auch Ulla versuchte, ein wenig zu schmunzeln. Es sah gekünstelt aus, so als fiele es ihr sehr schwer. Aber sie lächelte.
Immerhin, dachte Leon. Besser als ein Rausschmiss ist es allemal.
Aber
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