Nachtblind
Vielleicht war er mal mit Rodriguez dort. Vielleicht hat er die Möglichkeit auch gezielt erkundet. Aber egal – wenn Rodriguez ermordet wurde, musste der Killer sich rausschleichen, weil er wusste, dass wir Beobachter in dem Gebäude platziert hatten.«
»Und wie hat er ihn umgebracht?«, fragte Rose Marie.
»Er hat ihn mit einem flachen, harten Gegenstand niedergeschlagen. Keinem Baseballschläger, weil dann die Wunde vermutlich aufgefallen wäre. Vielleicht mit einer dicken Hartholzlatte.«
»Autsch«, sagte Del. »Das schmerzt in der Hand …«
»Er wartet, bis Rodriguez aus dem Ausgang des Parkhauses im zweiten Stock kommt«, fuhr Lucas fort, »vergewissert sich, dass sie beide allein da oben sind, schlägt dann zu, zerrt ihn zum Geländer, hängt ihn darüber, mit dem Kopf nach unten, lässt ihn fallen. Rodriguez schlägt mit dem Kopf unten auf und ist endgültig hinüber.«
»Da fällt mir was ein«, sagte Rose Marie. »Erinnern Sie sich an diese Todessprünge im County-Gebäude? Ich habe ein paar der Leichen gesehen. Diese Leute haben keine Kopfsprünge gemacht – sie ließen sich einfach fallen und landeten meistens flach auf dem Boden. Rodriguez müsste schon ganz bewusst den Entschluss gefasst haben, mit dem Kopf voraus runterzuspringen – und so auch unten zu landen. Aber das ist nicht logisch. Ein Mensch, der von sich aus den Tod sucht, scheut davor zurück, dass sein Gesicht zerschmettert und damit sozusagen seine Identität ausgelöscht wird.«
»An so was habe ich nicht gedacht, aber Sie haben Recht«, sagte Lucas. Del nickte.
Sie saßen eine Weile da und dachten nach. Rose Marie drehte sich auf ihrem Stuhl hin und her, fragte schließlich: »Haben Sie beide sich schon überlegt, wie es weitergehen kann?«
»Wir haben uns überlegt, dass wir ihn nicht überführen können, wenn es das ist, was Sie meinen«, sagte Del.
Lucas nickte. »Wir haben in der Öffentlichkeit verkündet –oder gezielt durchsickern lassen –, dass wir von zwei Mördern ausgehen: einem, der Alie’e und Lansing umgebracht hat, und einem zweiten, der einen Rachefeldzug wegen dieser Morde führt. Daher ist der wahrscheinlichste Kandidat für den Mord an Rodriguez dieser zweite Killer; Rodriguez’ Name war ja in die Öffentlichkeit gedrungen und dem ›Rache-Engel‹ bekannt geworden. Aber wir wissen, dass das so nicht sein kann, weil wir diesen vermuteten zweiten Mörder unter Beobachtung hatten und er sich während der Tatzeit zweifelsfrei am anderen Ende der Stadt aufhielt. Und dieser zweite Mann, selbst wenn es sich nicht um Tom Olson handelt, konnte nicht wissen, wie er Rodriguez zurück zu seinem Bürogebäude locken sollte, konnte nicht wissen, dass Rodriguez rund um die Uhr von uns beobachtet wurde, konnte nichts von der Telefonüberwachung wissen. Null Chance, diese Theorie einer Jury zu
verkaufen …«
»Und wir haben uns ja ziemlich eindeutig auf Rodriguez als den Mörder von Lansing und Alie’e festgelegt«, ergänzte Del. »Und die Einzelheiten sind in die Öffentlichkeit durchgesickert. Auch der Selbstmord passt gut in dieses Bild … Es ist schwierig, da noch umzuschwenken.«
»Selbst wenn wir noch umschwenken und Spooner als Mörder präsentieren würden – sein Verteidiger würde auf Rodriguez als Täter beharren, und wir wären dem recht hilflos aus gesetzt«, sagte Rose Marie. »Sie haben mich zu zwei Dritteln davon überzeugt, dass Spooner der Killer ist, aber vor einem Geschworenengericht würden die Chancen achtzig zu zwanzig für Rodriguez als Mörder stehen. Alles, was wir an Beweisen gegen Spooner in der Hand haben, ist diese lange Kette von Lucas-Davenport-Vermutungen …«
»Zumutungen«, berichtigte Del grinsend.
»So ist es ja nun auch wieder nicht«, protestierte Lucas. »Wir können ihn von den Fakten her mit den Morden an Lansing und Deal in Verbindung bringen. Niemand aber kann einen Zusammenhang zwischen Rodriguez und dem Mord an Derrick Deal konstruieren. Wenn wir nachweisen, dass Spooner bei der Party war …«
»Es wäre ein brauchbares Indiz, wenn auch kein absolut überzeugendes, da ja Rodriguez stets als Alternativkandidat im Raum steht«, sagte Rose Marie. »Sie haben nicht einmal ein Motiv aufgezeigt, Lucas, warum Spooner Sandy Lansing umgebracht haben sollte. Bei Rodriguez aber greift das Argument, es habe sich um eine aus den Fugen geratene Auseinandersetzung zwischen Drogengroßhändlern und seinem Dealer gehandelt.«
Wieder saßen sie sekundenlang
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