Nachtblind
braunen Umschlag in der Hand. Er trug Handschuhe, denn es war noch kälter als Anfang der Woche, und unter dem blassblauen Himmel pfiff ein heftiger Wind durch die Straßen.
Die Leute, die zum Einkaufen unterwegs waren, hatten sich in Schals und lange Mäntel gehüllt, und Geschäftsleute in dünnen Trenchcoats fletschten die Zähne im eiskalten Wind.
»Falls du mir nicht sagst, was in dem Umschlag steckt, gerate ich in eine peinliche Situation, wenn wir bei den Leuten ankommen«, sagte Del.
»Tu einfach so, als ob du bestens informiert wärst.«
»Du lässt doch nur deine schlechte Laune an mir aus.«
»Nein. Im Gegenteil, ich bin absolut fröhlich.«
»Das würde mich sehr wundern«, sagte Del. »Es könnte nur zwei Gründe dafür geben: Entweder hast du den Fall gelöst, oder du bumst Jael Corbeau.«
»Warum nicht beides?«, fragte Lucas grinsend. »Niemand kann so viel Glück haben«, sagte Del. »Also – was steckt in dem Umschlag?«
»India wird es dir gleich sagen. Wenn wir bei Brown’s angekommen sind.«
India, der Manager Philip und die andere Frau, die sich damals zusammen mit India das Foto von Rodriguez angesehen hatte, warteten bereits am Empfangspult, als Lucas und Del im Hotel ankamen. Lucas zog ein Foto aus dem Umschlag und schob es den drei Hotelangestellten zu; es war am Morgen mit einer digitalen Kamera aufgenommen und erst vor einer halben Stunde ausgedruckt worden. »Kennen Sie diesen Mann?«
Del schob sich zur Seite, um einen Blick auf das Foto zu erhaschen, aber Lucas versperrte ihm grinsend die Sicht.
»Das ist er«, sagte India. Die andere Frau nickte, und Philip, der lange auf das Foto starrte, sagte: »Ja, diesen Mann kenne ich.«
»Hat er Derrick Deal gekannt?«
»Das könnte sein«, antwortete Philip. »Wahrscheinlich sogar. Ich glaube, ich habe die drei zusammen gesehen. Mindestens einmal. Vielleicht …«
»Der Mann war definitiv mehrmals hier«, sagte India.
Del streckte die Hand aus, nahm das Foto, starrte es an, sagte: »Ich hab’s dir doch von Anfang an gesagt, Lucas. Es ist dieser gottverdammte Spooner.«
»Das kann doch wohl nur ein Scherz sein«, sagte Rose Marie Roux. Sie lehnte sich auf ihrem Bürostuhl zurück, so weit es nur ging, und legte die Hände vor die Augen, als ob sie sich vor dem Horrorszenarium, das sich ihr da aufdrängte, schützen wollte, »Wir haben doch voll auf Rodriguez gesetzt …«
»Er wurde ermordet«, sagte Lucas. »Es war kein Selbstmord. Ich habe die halbe Nacht darüber nachgegrübelt. Erinnern Sie sich, wie wir den Entschluss fassten, die Hypothesen von Angela Harris über die Morde an den Olsons ernst zu nehmen und uns darauf einzustellen?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich lag also die halbe Nacht wach und brachte Ordnung in meine Gedanken. Und als ich damit fertig war, stellte ich zwei Hypothesen auf: zum einen, dass ich herausfinden würde, wie der Mörder aus Rodriguez’ Bürogebäude verschwinden konnte; und zum anderen, dass die Angestellten in Brown’s Hotel Spooner erkennen würden. Und jetzt stelle ich eine dritte Hypothese auf: Wir kennen längst noch nicht alle Leute, die bei der Party ein- und ausgegangen sind; Frank lässt inzwischen den Partygästen, die wir registriert und vernommen haben, Fotos von Spooner vorlegen. Ich wette, dass wir jemanden finden werden, der ihn bei der Party gesehen hat.«
»O heilige Mutter Maria«, stöhnte Rose Marie. »Erklären Sie mir das alles mal genauer.«
Lucas trug Punkt für Punkt vor:
»Da haben wir diesen Mann, der aus den Slums von Detroit kommt, ohne jede Erziehung oder Ausbildung – und zwei Jahre später gründet er in Miami eine Firma, über die er ganz legitim hier bei uns Appartementhäuser kauft, und die wiederum benutzt er dazu, Drogengeld zu waschen. Eine sehr komplizierte Konstruktion, nicht wahr?
Wenn das aber so komplex ist, wie kommt unser Mann darauf? Könnte doch sein, dass ihm ein Banker den Weg dazu aufgezeigt hat, oder?
Und was hat dieser Banker davon? Wie wär’s mit Geld, Drogen, Frauen?
Was hat Rodriguez davon? Wie wär’s mit Finanzierungsmöglichkeiten für die Ausdehnung seines Besitzes, einem Weg zur Geldwäsche für sein Drogengeld – und Legitimität? Er war ein cleverer Mann, auch wenn er nicht viel Erziehung genossen hatte.
Was passiert bei der Party? Wer weiß … Aber Spooner tötet Sandy Lansing, vielleicht unbeabsichtigt. Alie’e wird zufällig Zeugin des Mordes, also muss er sie ebenfalls umbringen. Dann
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