Nachtblind
Alie’e Maison eine Berühmtheit war, machte auf Lucas keinerlei Eindruck. Ihr Ruhm war absolut flüchtig, nicht das Ergebnis harter Arbeit oder intellektueller oder moralischer Überlegenheit, sondern einfach nur ein Nebenprodukt ihres physischen Aussehens.
Dennoch, er spürte kein Das-geschieht-ihr-recht-Gefühl; was er jedoch aufkommen spürte, war ein erstes Prickeln seines Jagdinstinkts. Und das war eine ganz andere Sache. Es hatte nichts mit Alie’e Maison zu tun; es war eine Sache, die sich ausschließlich zwischen ihm und seinen Leuten auf der einen Seite und den Verbrechern auf der anderen abspielte.
Dann sah er vor seinem geistigen Auge Catrins Bild als junge Frau auftauchen. Mann, als er sie das letzte Mal gesehen
hatte …
Lucas hielt die Augen weiterhin geschlossen, und seine Mundwinkel hoben sich. Zu einem leichten Lächeln, aber keinem besonders attraktiven. Er fühlte sich irgendwie erschöpft; war sich des Drucks, der von politischer Seite auf ihn ausgeübt wurde, bewusst; dachte an den Killer da draußen, vielleicht auf der Flucht, vielleicht aber auch nicht. Und das alles mit dem Bild einer Frau vor Augen, einer Frau, an die zu denken sich lohnte.
Ja, so war das Leben nun mal … Da hing er in seinem Stuhl, wünschte, er hätte das Rauchen nicht aufgegeben, und vierundzwanzig Dinge bedrängten ihn zur gleichen Zeit. Keine Rede von Entspannung, von Davondriften in endlose Weiten… Nur Gedanken an diesen erfolgreichen, wohlhabenden, ringsum Hände schüttelnden Scheißkerl …
Zu dem er geworden war.
Er schlief wie ein Baby. Bis das Telefon schrillte.
5
Dunkel. Schlechter Geschmack auf der Zunge … Lucas richtete sich auf. Das Telefon klingelte weiter. Er war einen Moment verwirrt, realisierte dann, dass er sich in seinem Büro befand und eingenickt war. Er seufzte und tastete nach dem Telefonhörer. »Ja?«
Sloan: »Dieser Amnon-Typ kommt her. Und auch seine Schwester, ehm, Jail oder wie man den Namen ausspricht. Ya-el?«
»Ja. Jael.« Lucas rieb sich die Augen, machte die Schreibtischlampe an und sah auf die Uhr. Viertel nach sieben. »Wann kommen die beiden?«
»Amnon ist in St. Paul. Er sagte, er würde mitten in einer wichtigen Arbeit stecken, könnte aber in zehn Minuten oder so losfahren. Er wird also in ungefähr einer halben Stunde hier eintreffen. Seine Schwester sagte, sie könnte um neun hier sein.
Sie klang irgendwie ausgeflippt. Ich konnte mithören, dass im Hintergrund jemand heulte … Wie auch immer, du hast gesagt, du willst bei der Vernehmung dabei sein.«
»Ja, das will ich. Bringen sie Anwälte mit?«
»Weiß ich nicht … Ich weiß aber, dass man Alie’es Leiche zum Pathologen geschafft und der eine erste Untersuchung vorgenommen hat. Ich gehe gleich mal rüber zu ihm.«
»Wart auf mich – ich komme mit.«
Der Pathologe war ein Mann mittleren Alters mit langem, angegrautem Haar, das er zu einem straffen Pferdeschwanz im Nacken zusammengefasst hatte. Er trug eine Brille mit Goldrand und machte den Eindruck eines zerstreuten Professors. Sie saßen in seinem Büro, einem kleinen Raum mit der üblichen Ausstattung. Leichen waren keine in Sicht. »Ich habe eine flüchtige erste Untersuchung vorgenommen, mehr nicht«, sagte der Arzt. »Die ausführliche Autopsie mache ich gleich anschließend. Erste Ergebnisse der chemischen Tests werden am späten Nachmittag vorliegen. Aber ich kann Ihnen jetzt bereits drei Dinge sagen: Ihre Leute meinten, sie sei erwürgt worden, und ich kann das mit ziemlicher Sicherheit bestätigen. Es war keine in sexueller Erregung erfolgte unbeabsichtigte Erstickung oder sonst etwas in dieser Art. Ihr Zungenbein ist gebrochen, und das kann nur durch Anwendung direkten Druckes geschehen sein, wahrscheinlich mit den Daumen zweier kräftiger Hände.«
»Also ein Mann«, sagte Sloan.
Lucas runzelte die Stirn. »Wie kommst du überhaupt auf die Idee, es könnte auch eine Frau gewesen sein?«
»Es gibt Gerüchte, sie hätte ihre sexuellen Vorlieben ans andere Ufer verlagert«, erklärte Sloan. »Genauer, sie hätte es an beiden Ufern getrieben, in letzter Zeit aber meistens mit Frauen.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht definitiv bestätigen, dass es ein Mann war, sondern nur, dass hier zwei kräftige Hände am Werk waren. Die zweite Sache: Die Leute von der Spurensicherung meinten, ihr Zustand lasse darauf schließen, dass sie vor Eintritt des Todes Sex hatte. Ich kann auch das bestätigen – sie
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