Nachtblind
Ton.«
»He, halten Sie mich für einen Idioten?«
Lucas schaute zur Decke, als ob er über diese Frage erst einmal nachdenken müsse, und Lester grinste, sagte dann: »Wir überprüfen mit großem Aufwand jede einzelne Person, die bei der Party war, halten jede Aussage bei den Vernehmungen genauestens fest, aber unsere Leute kommen immer mehr zu der Überzeugung, es müsste ein Fassadenkletterer gewesen sein.«
»Das wäre schlimm«, sagte Lucas. »Es sei denn, wir würden auf eindeutige Spuren von ihm stoßen.«
»Nach dem jetzigen Stand ist das fast unmöglich, wenn ihn nicht noch jemand verpfeift. Auf welche Spuren können wir denn noch stoßen? Er hat nicht mal Blut an der Kleidung, weil es keines gab. Wir sollten vielleicht eine Belohnung aussetzen.«
»Sie kennen die Sache mit George Shaw?«
Lester nickte. »Keine Zusammenhänge.«
»Wahrscheinlich nicht, aber die Medien scheinen zu denken, es würde welche geben. Wenn Sie sich entschließen, eine Belohnung auszusetzen, sollten Sie damit warten, bis die Shaw-Sache ausgebrannt ist. Eine Belohnung wäre ein neuer Aspekt. Wir müssen uns die Medien so lange wie möglich vom Leib halten.«
»Okay …«
»Noch was«, sagte Lucas. »Der Schlüssel zur Lösung liegt bei der Party. Es hat keinen Fassadenkletterer gegeben.«
»Sagt wer?«
»Sage ich. Rose Marie hat heute Morgen zu mir gesagt, ein Mann habe Alie’e ermordet, es sei keine Lesbensache gewesen, und bei Gott, sie hat Recht. Und dieser Mann war kein Einbrecher. Es würde dem lieben Gott einfach nicht gefallen, dass das alles nur Zufall war, ein zufälliges Zusammentreffen, in das Alie’e Maison hineingestolpert ist.«
Lester blies die Wangen auf, ließ dann die Luft ausströmen. Nickte dann.
»Ein Fassadenkletterer krabbelt nicht durch ein offenes Fenster und stößt zufällig auf eine Alie’e Maison, die schlafend und ohne Unterhose auf dem Bett liegt«, sagte Lucas. »Nicht in einer Million verdammten Jahren.«
Lester grinste wieder, dachte darüber nach. »Müsste ein ausgesprochen glücklicher Fassadenkletterer gewesen sein …«
»Wo ist Sloan?«, fragte Lucas.
»Immer noch bei Vernehmungen.«
Lucas ging zum Treppenhaus. Vielleicht war Sloan ja auf irgendeine Spur gestoßen.
Er fragte sich, was für eine Art Frau Catrin inzwischen war. Hatte sie sich etwa zur Kleinstadt-Mami-Hausfrau entwickelt? Aber diesen Eindruck hatte sie nicht gemacht. An der Tankstelle hatte sie … interessant ausgesehen. Er versuchte, sich die Begegnung heute Morgen ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie war älter geworden, natürlich, aber das war er ja auch. Ein paar Fältchen im Gesicht. Ein paar zusätzliche Pfunde? Etwa zehn? Vielleicht. Aber sie hatte noch dieses schöne Haar und diese aufregenden Bewegungen. Und dieses Lachen …
Seine Gedanken wanderten zurück zu seiner Studentenwohnung in der University Avenue, direkt über einem schmuddeligen Auto-Ersatzteil-Laden. Es gab ein Wohnzimmer mit einer Ausziehcouch und einem Pseudo-Perserteppich von Goodwill, ein Badezimmer, dessen Wände permanent mit Stockflecken oder Schimmelpilzen – er hatte sich nie dafür interessiert, um was genau es sich handelte – überzogen waren, und eine Küche mit einem billigen Gasofen und einem Kühlschrank, der sich wegen eines fehlenden Fußes nach links neigte und daher schräge Eiswürfel produzierte. Es gab auch ein kleines Schlafzimmer, und dort stand das beste Stück der Möbelausstattung – ein Bett, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Und es war gut, dass er dieses gut gefederte Bett hatte, denn Catrin hätte ihm ansonsten das Kreuz gebrochen. Sie mochte Sex. Sehr sogar. Sie war nicht promiskuitiv, sondern einfach nur mit Enthusiasmus dabei. Sie hatten beide eine Menge voneinander gelernt und miteinander ausprobiert. Da war mal ein kalter, aber sonniger Wintermorgen gewesen, sie hatten noch im Bett gelegen, und Sonnenstrahlen waren durch das verschmutzte Fenster aufs Bett gefallen, und Catrin …
Ohne Zweifel, es erregte ihn, wenn er an diesen Morgen zurückdachte …
Am Fuß der Treppe blieb er stehen, sah sich um. Wo wollte er hin?
Ach so. Sloan.
Sloan kam gerade aus einem Verhörzimmer. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand und ging einen Schritt hinter einem Mann in mittlerem Alter her, der einen gebrochenen Eindruck machte. Der Mann hatte einen Buckel dicht unter dem Genick, hielt den Kopf nach vorne gestreckt und hatte das dünne graue Haar quer über die beginnende
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