Nachtblind
Corbeau verstrickt ist …« Ein Foto von Corbeau wurde eingespielt; es zeigte sie in einem Kleid mit chinesischem Kragen, der ihre Gesichtszüge besonders hervorhob – dieses markante Gesicht mit den gezackten Narben …
Nach einiger Zeit hatte Lucas genug von dem Gequatsche. Er schaltete den Fernseher aus und ging zu seinem Zeichentisch.
Eine Idee pro Nacht, mehr brauchte er nicht. Seine Idee an diesem Abend war die, dass er einen hauptamtlichen Spielespezialisten brauchte – besser noch eine Spielespezialistin, eine hübsche, blonde junge Frau mit Goldrandbrille. Aber er würde sie sich nicht allzu lange leisten können – wer weiß, ob das Endprodukt ein Erfolg wurde. Er musste sich ein Zeitlimit setzen. Ein Jahr vielleicht. Er legte ein neues Blatt Papier vor sich auf den Tisch, setzte sich davor und kritzelte darauf herum. Brachte nichts zu Stande …
Catrin. Er war sich nicht bewusst, was er über sie dachte, aber sie geisterte in seinem Kopf herum …
Ruhelos ging er in den Flur, nahm den Telefonhörer ans Ohr, zögerte, wählte dann. Die Nummer des Klosters. Eine Nonne meldete sich. »Hier ist Chief Davenport von der Stadtpolizei Minneapolis«, sagte Lucas. »Ich möchte Schwester Mary Joseph sprechen.«
»Ich hole sie an den Apparat«, sagte die Nonne: eine junge Stimme mit einem Anflug von Melancholie.
Schwester Mary Joseph war seine älteste Freundin, noch aus der Zeit an der Grundschule. Elle Kruger – so ihr Geburtsname – war Psychologieprofessorin am St. Anne’s College, ein paar Blocks von Lucas’ Haus entfernt. Lucas wartete zwei Minuten, hörte dann, wie der Hörer am anderen Ende auf genommen wurde.
»Lucas?«
Er lächelte freudig, als er ihre Stimme hörte – wie fast immer in dieser Situation. »Hallo, Elle. Wie geht’s dir?«
»Kein weiteres Gesäusel, Lucas. Was geht im Mordfall Alie’e Maison vor sich?«
»Komisch, dass du das so direkt fragst.«
»Gibt es tatsächlich eine Verstrickung in den Fall?«
»O Gott …«
»Und was ist eine Fotze ?«
Lucas war für einen Augenblick völlig verwirrt, wusste aber sofort, dass er ihr gegenüber niemals eine Antwort auf diese Frage zu Stande bringen würde. Aber dann lachte Elle fröhlich, sagte: »Du kannst jetzt deinen Herzschlag wieder aktivieren.«
»Hör zu, mach so was nicht noch mal«, knurrte er. »Diese Alie’e-Sache ist … eine wüste Schweinerei. Ja, lesbische Beziehungen, drei Frauen treiben’s miteinander, darunter Alie’e, kurz bevor sie ermordet wird. Ich weiß nicht, ob es da einen Zusammenhang mit dem Mord gibt. Vielleicht nicht. Damit sind wir aber auch schon bei dem Thema, zu dem ich dich was fragen wollte.«
»Was?«
»Wenn schwule Männer sich umbringen, ist das meistens mit dem Einsatz roher Gewalt verbunden – schwere Demütigungen, große Wut. Oft Morde mit Messern, aus welchem Grund auch immer. Man stößt dann auf Leichen mit zwanzig oder dreißig Messerstichen im Körper.«
»Wenn die Dinge falsch laufen, verkehrt sich Leidenschaft in Wut; Leidenschaft und Wut sind eng miteinander verbunden … Wie verhielten sich diese Frauen? Waren die Beziehungen ausgesprochen sexuell, oder waren sie weniger sexuell und eher etwas anderes?«
»Das ist es, was mich quält. Eine der Frauen sagte mir, es sei zwar sexuell, aber nicht aggressiv sexuell. Sie sagte, es sei mehr so was wie ein Aneinanderkuscheln. Aber sie hatten Sex – manuell bis hin zu heftigem Kratzen, auch oral. Aber es machte irgendwie keinen … durchgedrehten Eindruck.«
»Es war wohl auch nicht durchgedreht … Das kulturelle Tabu gegenüber lesbischem Sex ist nicht so radikal wie gegenüber der männlichen Homosexualität. Wenn ein Mann ein homosexuelles Verhältnis eingeht, ist damit ein … enormer Stress verbunden, zumindest zu Beginn. Bei einer Frau dagegen kann es bei der Freundschaft mit einer anderen Frau zu gelegentlichen zärtlichen Berührungen, schließlich auch zu Sex kommen, dann aber auch nahtlos wieder zurück zur rein sexfreien Freundschaft, ohne dass es zu größeren Schuldgefühlen oder Stress kommt. Deshalb gibt es ja auch so wenige im Affekt begangene Morde in der Lesbierinnenszene. Der Stress ist einfach nicht so groß.«
»Alle drei betroffenen Frauen unterhielten zur gleichen Zeit auch sexuelle Beziehungen zu Männern.«
»Das ist nicht ungewöhnlich. Es gibt Frauen, die sind … wie soll ich es ausdrücken? Ja, sie sind reflexiv lesbisch. Sie sind so interessiert an Frauen wie … nun, wie du es
Weitere Kostenlose Bücher