Nachtblind
Paul, frag die Cops von hier.«
»Ja, aber …«
Sie eilten über die Straße zum Parkplatz des Möbelladens, weiterhin verfolgt von Lucas’ alter Freundin und ihrem Kameramann am Ende des Mikrofonkabels. Lucas schob Jael auf den Beifahrersitz, und die Reporterin folgte ihm um das Heck des Wagens, sagte leise: »Beantworte mir doch diese einzige Frage.«
Er blieb stehen und sagte: »Steck dein Mikrofon unter den Mantel.« Sie tat es, und er flüsterte ihr zu: »Plain ist tot. Er ist erschossen worden. Eine scheußliche Sache. Du hast das nicht von mir gehört, klar?«
Im Porsche saß Jael schweigend und zusammengekauert da, starrte nach vorne durch die Scheibe, während sie die Interstate überquerten, vor mehreren Ampeln halten mussten und dann auf die Schnellstraße in westlicher Richtung nach Minneapolis fuhren. Schließlich sagte sie: »Mein Gott, ich kann es nicht glauben.«
»Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden …«
»Ich kann es einfach nicht glauben, dass er tot ist.« Sie sah ihn an. »Sie waren einer der Männer, die mich verhört haben. Ich erinnere mich an Sie.«
»Ja.«
»Sie machten einen bösartigen Eindruck. Ich habe die ganze Zeit erwartet, dass Sie etwas Gemeines zu mir sagen.«
»Vielen Dank, ich weiß das zu würdigen. Ich werde es mir ins Stammbuch schreiben.«
Ihre Stimme wurde weicher: »Tut mir Leid, wenn ich Sie gekränkt habe.«
»Nein, nein …«
»Es sind die Narben«, sagte sie. Sie streckte die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über die weiße Narbe, die sich wie ein Ausrufungszeichen über seinen Hals zog. »Wie ist das passiert?«
»Ach, wissen Sie …«
»Ich weiß nichts – Sie müssen es mir erzählen.«
»Ein junges Mädchen hat auf mich geschossen«, sagte Lucas. »Ein zufällig anwesender Arzt musste einen Luftröhrenschnitt machen, damit ich nicht erstickte.«
»Kein geübter Chirurg, nach der Narbe zu urteilen.«
»Er musste es mit einem Taschenmesser machen«, erklärte Lucas.
»Warum hat ein junges Mädchen auf Sie geschossen? Wirklich ein junges Mädchen?«
»Ja, wirklich. Sie war in den Kerl verliebt, der sie missbrauchte, und ich war hinter ihm her. Sie wollte ihm Zeit zum Entkommen verschaffen.«
»Und? Ist er entkommen?«
»Nein.«
»Und was geschah mit dem Mädchen?«
»Ein anderer Cop hat es erschossen.«
»Mein Gott …« Sie sah ihn wieder an, länger diesmal, fragte dann: »Und was ist mit der anderen Narbe? Der auf Ihrem Gesicht?«
»Ein Angelhaken. Er hatte sich in einem Treibholzstamm verfangen, ich zerrte wütend an der Angel, er rutschte ab und ritzte mir zur Strafe für mein laienhaftes Verhalten die Gesichtshaut auf.«
»Das hat bestimmt wehgetan, oder?«
»Nein, eigentlich nicht. Es brannte nur ein bisschen. Ein Problem wurde erst daraus, als ich die Sache nicht ernst nahm. Wischte das Blut mit einem Schuss Cola ab, drückte den Hemdsärmel auf die Wunde und angelte weiter. Auch als ich dann ins Bett ging, sah es nicht schlimm aus, aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich eine böse Entzündung entwickelt.«
»Aha … Ich habe eine Menge Geld mit meinen Narben gemacht«, sagte sie. Ihre Stimme klang distanziert und abwesend, als würde sie in einen Schockzustand hinübergleiten. Lucas sah sie an, betrachtete noch einmal ihre Narben: drei weiße Linien, die vom Haaransatz an der linken Schläfe quer über das Gesicht verliefen. Zwei der Linien erstreckten sich über die Nase und endeten auf der rechten Wange. Die dritte verlief in einem steileren Winkel dicht am linken Nasenflügel vorbei über die Lippen hinweg zur rechten Ecke des Kinns. Die Narben ließen ihr Gesicht auf irritierende Weise zusammenhanglos erscheinen – als ob es ein Stück Papier sei, das man zerrissen und dann sehr nachlässig mit Tesafilm wieder zusammengeklebt hätte.
»Sie haben diesen Narben, ehm, Ihre Karriere …?«
»Ja. Ich sehe doch toll mit ihnen aus – sehr erotisch, oder? Viele kleine Jungs laufen nach Hause und holen sich einen runter, wenn sie an mein Narbengesicht denken.«
»Tatsächlich? Nun ja, kann sein … Die Narben sind die Folge eines Autounfalls, nicht wahr?«
Sie sah ihn wieder prüfend an. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe ein paar Jahre in Uniform auf der Straße Dienst getan und viele Unfälle und Unfallopfer gesehen. Sieht aus, als ob Sie durch die Windschutzscheibe geflogen wären.«
»Ja.«
»Ist bei diesem Unfall auch Ihre Mutter …?«
»Nein, nein. Sie hat sich mit Tabletten
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