Nachtblüten
und er wollte nicht so von oben herab mit ihr sprechen.
»Ja, klar.«
»Ich muß dich etwas ganz Wichtiges fragen. In der Diele von Signora Hirschs Wohnung gibt es einen Einbauschrank, und ich möchte wissen, ob du da schon mal reingeschaut hast.«
Das Mädchen zögerte und wickelte sich eine lange blonde Haarsträhne um den Finger. »Gilt ein Geheimnis auch noch, wenn der, dem man versprochen hat, es nicht zu verraten, tot ist?«
»Das kommt drauf an.«
»Woher weiß ich dann, ob ich’s Ihnen erzählen darf?«
»Mach dir darüber keine Sorgen. Mir kannst du’s auf jeden Fall erzählen, denn wenn es ein Geheimnis ist, das man für immer bewahren sollte, dann sag ich’s dir, und wir beide werden es nie jemandem verraten. Wenn du’s mir sagst, zählt das nicht, weil ich doch Carabiniere bin.«
Jetzt wirkte sie ganz wie eine Zwölfjährige, ein kleines Mädchen, das erwachsen spielte und wenn es ernst wurde, erschrocken einen Rückzieher machte.
»Also in dem Schrank, da war ein Safe drin. Sie hat nichts davon gesagt, aber ich hab’s gesehen, als sie ein paar Sachen herausgeholt und mir gezeigt hat.«
»Was denn für Sachen? Sahen die wertvoll aus? Waren es vielleicht Schmuckstücke?«
Lisa zuckte die Achseln. »Alter Kram. Kerzenleuchter und ein paar alte Bücher und Kleider, so was halt. Vielleicht hatten die Sachen ihrer Großmama gehört. Sie hat ihre Großeltern gar nicht gekannt, aber sie redete dauernd von ihnen, wie das alte Leute machen.«
»Und was war mit ihrem Bruder? Hat sie über den auch gesprochen?«
»Nein. Nur über ihre Großeltern und manchmal über ihre Eltern. Von denen war auch ein Bild im Safe und dann noch eins mit Blumen. Das war ihr Geheimnis, sagte sie, daß sie diese Bilder besaß. Finden Sie das nicht komisch?«
»Kommt drauf an. Diese Bilder – waren das Gemälde? Dann könnten sie wertvoll gewesen sein.«
»Es waren bloß alte Schwarzweißfotos. Also ist es nun ein echtes Geheimnis oder nicht?«
Der Maresciallo überlegte. Wenn es sich irgend vermeiden ließ, war er Kindern gegenüber niemals unehrlich.
»Ich bin nicht ganz sicher. Aber sobald ich’s weiß, werde ich’s dir sagen, versprochen. Und bis dahin behältst du es für dich.«
»Darf ich’s nicht mal meiner Mama und meinem Papa verraten?«
»Nicht mal denen. Du hast ihnen doch noch nichts davon erzählt, oder?«
»Nein.«
»Du brauchst sie nicht anzulügen. Wenn sie dich danach fragen, dann sag ruhig, ich hätte gesagt, sie sollen sich an mich wenden. Du hast mir sehr geholfen, Lisa, und ich möchte mich bei dir bedanken.«
Er sah ihr an, daß sie sich über sein Lob freute, und war sicher, daß er sich auf sie verlassen konnte. Als er wieder hinunterging, hörte er schon im Treppenhaus die lauten Stimmen der Reporter und Pressefotografen, die sich gegenseitig überschrien.
»Stimmt es, daß ihr die Kehle durchgeschnitten wurde?«
»Muß ja schon tagelang da drin gelegen haben, so wie das hier stinkt.«
»Bei der Hitze…«
»Nur eine Aufnahme von der Tür in die Diele?«
»Wurde die Wohnung durchwühlt?«
»Bloß eine von dem Schrank – war da ein Safe…«
»Meine Herrschaften, bitte.« Der Staatsanwalt war freundlich, sehr besonnen und ganz und gar Herr der Lage. »Wir sind gerade dabei, den Leichnam abzutransportieren. Wenn Sie uns in Ruhe unsere Arbeit machen lassen, dann kriegen Sie nachher von mir eine Stellungnahme. Unten. Ah, Maresciallo! Sehen Sie zu, daß die Carabinieri das Treppenhaus und den Ausgang freihalten, ja? Und lassen Sie keine Fernsehteams rauf. Die können filmen, wie der Sarg verladen wird, und damit hat sich’s.«
Die Geschichte von dem Wandsafe würde trotzdem in die Zeitungen kommen, und kein Journalist würde so phantasielos sein, sich einen so langweiligen Inhalt wie ein paar vergilbte Fotos und alte Klamotten dafür auszudenken.
Etwa zwanzig Minuten später erschien der Staatsanwalt vor dem Haus und gab der Presse den ungefähren Todeszeitpunkt bekannt, den der Maresciallo bei einem Besuch im Nachbarhaus ermittelt hatte. Die Bewohner im zweiten Stock hatten sich furchtbar aufgeregt über das Bollern und Hämmern gegen ihre Wand, mit dem, ohne daß sie es ahnen konnten, nebenan der Safe entfernt wurde. »Von allem anderen abgesehen, hatten wir an diesem Abend Gäste – und seit wann sind Maurer so spät noch bei der Arbeit? Das war ja so schlimm, daß wir dachten, die brechen jeden Moment durch. Bei diesen alten Häusern kann das ohne weiteres passieren.
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