Nachtblüten
wie diesen jungen Burschen ihr Ungestüm zum Verderben wurde, und er war ständig in Sorge um sie. Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Gleich Mitternacht. Sie standen in der Via dei Serragli. Um den Parkplatz zu kriegen, hatten sie viermal um den Block fahren müssen, als die erste Abendvorstellung im Goldoni aus war. Der Wagen sah aus wie ein Zivilfahrzeug, aber die Männer waren in Uniform. Vor Beginn der Spätvorstellung hatte die lange, schmale Gasse sich ein wenig belebt, doch jetzt waren fast keine Fußgänger mehr unterwegs. Die Trattorien hatten längst geschlossen. Hie und da verstärkte die Neonreklame einer der wenigen Bars die matte Straßenbeleuchtung. Immer noch rauschten unentwegt Autos vorbei.
»Man fragt sich, wo zum Teufel die alle hinwollen um diese Zeit«, grummelte der Maresciallo, wie immer auf solch nächtlichen Einsätzen.
»In Discos und Clubs«, antwortete Lorenzini mechanisch.
In der Via dei Serragli betrieb Ilirs Vetter, ein gewisser Lek Pictri, seine ›Baufirma‹. In Wirklichkeit hatte er rechterhand, schräg gegenüber dem Kino, eine geräumige Wohnung im zweiten Stock, in der ständig bis zu acht albanische Einwanderer lebten. Lek Pictri betrog die Behörden damit, daß er diese Männer aufnahm und bei der Polizei als Angestellte seiner Baufirma meldete, die freilich nur auf dem Papier existierte. Als angeblich Vollbeschäftigte bekamen die illegalen Einwanderer nachträglich Aufenthaltsgenehmigungen und Ausweise und konnten fortan ganz legal als Immigranten durchgehen. Sobald sie alle Papiere beisammen hatten, zogen sie weiter, um – im Dienste der Pictri-Vettern – einträglichen Verbrechen nachzugehen, und machten in der Wohnung Platz für Neuankömmlinge. Bislang wußte niemand genau, wie hoch der Preis war, den sie für diese Starthilfe bezahlten, aber Pictris ›Firma‹ galt als Teil eines landesweiten Netzwerks, das die kostspielige und gefährliche Ausreise aus Albanien und die getürkten Legalisierungsverfahren ebenso kontrollierte wie den Handel mit Drogen und Prostituierten. Lek Pictri war der Maresciallo durch die Beschwerde eines ›alten Bekannten‹ auf die Schliche gekommen, der mit Pictri auf demselben Flur wohnte. Dieser Giancarlo Renzi war ein ehrbarer italienischer Dieb, der sich bitter über den regen Zustrom ausländischer Konkurrenz in seinem Metier beklagte. Der Maresciallo und seine Männer waren bereits zu ihrer in vierzehntägigem Turnus laufenden Nachtstreife ausgerückt, als Renzis Anruf ihnen über Funk durchgestellt wurde.
»Ich hörte laute Stimmen draußen auf dem Flur, und da habe ich durch den Spion gelinst und sie beobachtet.«
»Und du bist sicher, daß sie bewaffnet waren? Das ist sehr wichtig«, hakte der Maresciallo nach.
»In einem Fall bin ich mir ganz sicher. Bei den beiden anderen weiß ich’s nicht. Aber der eine hat dem Mädchen eine Knarre an den Kopf gehalten, verdammt! Frauen waren bisher noch nie in der Wohnung. Wenn sie jetzt auch noch Prostituierte hier anschleppen, dann ist aber Sense. Ich habe schließlich zwei halbwüchsige Töchter. Schon schlimm genug, daß rund um die Uhr Ausländer hier ein und aus gehen. Wenn Sie nicht endlich was unternehmen…«
»Nur ruhig. Wir sind schon unterwegs.« Wenn Waffen im Spiel waren, konnte der Maresciallo ohne Durchsuchungsbefehl in die Wohnung. Aber wenn das Netzwerk so groß war, wie sie vermuteten, dann brauchten sie trotzdem mehr Zeit, mehr Informationen, damit sich ein solcher Einsatz wirklich lohnte. Lek Pictri allein nützte ihnen gar nichts. Und er sollte auf keinen Fall merken, daß er observiert wurde. Jetzt meldete sich die reguläre Nachtstreife, die zu ihrer Unterstützung abgestellt war, über Funk.
»Hier Eins Eins Sieben. Wir sind auf der Piazza Santo Spirito. Drogenfestnahme am Kiosk. Was ist – wollen Sie stürmen?«
»Ich weiß noch nicht. Vorerst bleiben wir hier und observieren weiter.«
Der Maresciallo wußte, daß er eine Entscheidung fällen sollte, zögerte sie aber instinktiv noch hinaus.
Lorenzini faßte ihn am Arm.
»Sie kommen.«
Doch es waren nicht die Albaner, sondern Renzi. Er wartete eine Lücke im Verkehrsstrom ab und kam dann über die dunkle Straße geschlurft. Er trug ein T-Shirt, das nicht ganz über den Bauch reichte, Shorts und Gummilatschen. Mit Daumen und Zeigefinger nahm er die Zigarette aus dem Mund und raunzte: »Wo bleiben Sie denn, verdammt? Hört sich an, als würden die das Mädchen umbringen!«
Der Maresciallo
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