Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtblüten

Nachtblüten

Titel: Nachtblüten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
Vom Netzwerk:
großen Andrang im Warteraum, all die Leute, die mit keinem außer ihm sprechen wollten. Dem einzigen, dem sie vertrauten. Und er sollte nun beschuldigt werden, ein Kind belästigt zu haben? Wenn das passieren konnte, dann lebten sie weiß Gott in schwierigen Zeiten, und er hatte nichts davon gemerkt, hatte unbefangen kleinen Jungs den Kopf getätschelt und kleine Mädchen getröstet, die sich verlaufen hatten. Mit Entsetzen erinnerte er sich, während er durch seinen Warteraum ging, wie einmal so ein kleines Mädchen in eben diesem Raum so hysterisch geworden war, daß es sich splitterfasernackt auszog. Und er hatte es beruhigt und so gut er konnte wieder angezogen, ohne einen Zeugen weit und breit. Bei dem Gedanken brach ihm der Schweiß aus. Ohne den gewohnten Blick ins Bereitschaftszimmer zog er sich in sein Büro zurück. Dort saß er und überdachte seine Lage. Als er ging, hatte Lisa immer noch laut geschluchzt. Wenn er sie nicht berührt, sondern nach ihrer Mutter gerufen hatte, ohne ihr auch nur einmal über das blonde Haar zu streichen, dann bloß, weil ihr Ausbruch so überraschend, so völlig unerwartet gekommen war, daß er nicht wußte, wie er darauf reagieren sollte. Gott sei Dank nicht!
    Aber, um die Wahrheit zu sagen, empfand er eigentlich überhaupt keine Dankbarkeit. Das war alles grundverkehrt. Dieser Fall mochte vielleicht glimpflich ausgehen, aber das Leben würde nie wieder so sein wie früher. Wenn die Welt jetzt wirklich so aussah, dann war darin kein Platz mehr für ihn. Wenn er die Dinge nicht auf seine Art anpacken durfte – und was war seine Art? Sein Versprechen Sara Hirsch gegenüber zu vergessen, bis es zu spät war? War das seine Art, sich um die Leute in seinem Viertel zu kümmern? Geschah es ihm nicht ganz recht, wenn er nun für etwas beschuldigt wurde, das er nicht getan hatte, wo er doch mit dem, was er getan hatte, unbehelligt davongekommen war? Sara Hirsch gegenüber hatte er gleich zweimal versagt: Erst hatte er es nicht geschafft, ihr Leben zu retten, und nun gelang es ihm nicht, ihre Mörder zu finden.
    Eine ganze Weile saß er so da, schob die Akten auf seinem Schreibtisch von einer Seite zur anderen, klappte sie auf und wieder zu, tat so, als würde er darin lesen. Er atmete nicht richtig. Ihm war zu heiß… Er hatte völlig vergessen, die Jacke auszuziehen. Er erhob sich, um es nachzuholen, und stand da und wußte nicht mehr, wozu er aufgestanden war. Obwohl ihm schrecklich heiß war, spürte er ein schweres, kaltes Gewicht im Magen. Als ob er eine Kröte verschluckt hätte. Er sah sich förmlich überschwemmt von lauter Fällen, in denen er gleichfalls versagt hatte. Was war mit dem albanischen Mädchen im Krankenhaus? Er ganz allein hatte die Entscheidung getroffen, die Wohnung nicht zu stürmen. Und Sir Christopher Wrothesly? Ich stehe also auch unter Ihrer Obhut? Freut mich, das zu hören. Er hatte wenig Grund zur Freude. Keine Zeit, einem kranken Mann einen Besuch abzustatten, so sehr war der große Ermittler damit beschäftigt, den Fall Hirsch zu lösen. Und dann war es zu spät gewesen. Der Mann war zu krank, um ihn zu empfangen.
    »Nein, nein, nein…« Kein Wunder, daß die Welt kaum noch Verwendung für ihn hatte.
    Lorenzini stand in der Tür. »Haben Sie Besuch?«
    »Nein.«
    »Ich dachte, ich hätte Sie sprechen gehört…«
    »Nein.«
    »Wollten Sie grade weggehen?«
    »Nein.«
    »Oh… da sind ein paar Sachen, für die ich Ihre Unterschrift brauche.«
    »Legen Sie sie auf den Schreibtisch.«
    Lorenzini tat, wie ihm geheißen, und zog sich zurück.
    Die Kröte, die im Magen des Maresciallo hockte, blähte sich auf, wurde größer und kälter. Er brauchte Bewegung, mußte etwas tun. Er öffnete die Tür und rief einen Carabiniere aus dem Bereitschaftszimmer zu sich. Er hatte beschlossen, ins Krankenhaus zu fahren, nach dem Mädchen zu sehen, ihnen ihren Namen zu nennen, etwas Sinnvolles… In seinem Rücken hörte er Lorenzinis Stimme: »Ich hab keine Ahnung. Eben sagte er noch, er geht nicht weg.«

7
    uf der Fahrt zum Krankenhaus herrschte dichter Verkehr. Der Maresciallo blickte hinaus auf die rollende Blechlawine, ohne sie wirklich wahrzunehmen. In gewissen Abständen hörte er, wie sein junger Fahrer irgend etwas sagte, und raffte sich pflichtschuldig zu einem neutralen: »Hmhm…« auf. Erst als er merkte, daß der Carabiniere sich damit nicht abspeisen ließ und daß sie im übrigen auf dem Parkplatz angelangt waren, fragte er: »Was ist?«
    »Soll

Weitere Kostenlose Bücher