Nachtblüten
Und bis sie wieder zur Schule müssen, ist der Reiz des Neuen verflogen.«
»Ich verlange ja nichts weiter, als daß wir die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, wie eine Familie, statt daß wir beide allein hier sitzen und uns beim Essen diesen Krach anhören müssen.«
»Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«
»Nein, hab ich nicht.«
»Es ist zwanzig vor zehn.«
»Schon?«
»Also wirklich! Genausogut könnte ich zur Wand sprechen. Deine Mutter hatte ganz recht. Es hat keinen Sinn, mit dir zu reden, wenn du so eine Laune hast. Magst du noch Brot? Ich finde wirklich, du könntest…«
Er kaute mechanisch und nahm den Klang ihrer Stimme in sich auf, die die Kröte in seinem Innern ruhig hielt. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus hatte er bis jetzt allein in seinem Büro gesessen. Einen Zettel mit der Bitte, irgendwen anzurufen, hatte er achtlos beiseite geschoben. Und er erinnerte sich dunkel, irgendwelche Papiere unterschrieben zu haben, die Lorenzini ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte, aber wo die restliche Zeit geblieben war, hätte er nicht zu erklären vermocht. Gut möglich, daß er sie damit verbracht hatte, Akten aufund zuzuklappen, sie hin und her zu schieben und durchzublättern, als suche er etwas. Und so war es auch. Nur daß das, was er suchte, nicht in den Akten stand, die er durchforstete, ohne sie wahrzunehmen. Trotzdem war diese Blätterei vonnöten, war eine Art pantomimische Ersatzhandlung, auch wenn ihre praktische Nutzlosigkeit ihn irritierte. So verging die Zeit, und die bedeutungslosen Papiere, die weinende Rossi-Tochter, die zitternde Hand, die versuchte, eine Infusionsnadel abzureißen, erschienen abwechselnd vor seinem inneren Auge. Bilder, gegen die er sich nicht wehren konnte, gegen die er machtlos war. Hartnäckig schob er Aktenstöße hin und her. Rossi… Lorenzinis Notiz. Wieder legte er den Zettel beiseite, sperrte sich vor der bangen Ahnung, die er auslöste, hielt aber diesmal die Hand darauf. Was hatte sie gesagt? Nein, nein… nicht sie – der Kaufmann: »Nicht nötig, daß Sie so schwer schleppen«, war es das? Oder Rinaldi hatte es gesagt. Was gesagt? »Sie waren doch bestimmt in ihrer Wohnung…« Nein, nein, es war Signora Rossi… Er zog den Zettel wieder zu sich heran, aber ohne zu lesen, was darauf stand. Sie hatte es gesagt, irgend etwas über Möbel. Und endlich erklang Linda Rossis Stimme klar und vernehmlich in seinem Kopf: »Überhaupt ist das ein sehr ruhiges Haus, abgesehen von Signor Rinaldis Möbeltransporten zwischen dem Laden und seiner Wohnung.« Der Maresciallo schaufelte den ganzen Papierkram in eine Schublade, knallte sie zu und starrte auf die Karte von Florenz an der gegenüberliegenden Wand. Er tat einen tiefen Atemzug, fast einen Seufzer, stand auf, um näher heranzutreten, und konzentrierte sich mit finsterem Blick auf die Sdrucciolo de’ Pitti, ja tippte mehrmals mit dem Zeigefinger auf den Schriftzug.
»Nicht nötig, daß Sie so schwer schleppen…« sagte er laut, den Kaufmann zitierend. Nicht nötig, überhaupt ein Risiko einzugehen.
Dann war er in die Wohnung gekommen. Um zwanzig vor zehn. Nach dem Essen sah Teresa sich die Spätnachrichten an, und er saß neben ihr und starrte blicklos auf den Bildschirm. Als sie zu Bett gingen, schlief er augenblicklich ein, und beim Frühstück war er so wenig gesprächig wie tags zuvor beim Abendessen. Unten auf der Wache schaute er kurz im Bereitschaftszimmer vorbei und erklärte: »Ich habe außer Haus zu tun.«
»Haben Sie meine Nachricht gefunden, die wegen des Anrufs bei…«
»Später. Wenn ich zurück bin.«
Lorenzini sah ihn prüfend an und fragte: »Brauchen Sie ein Auto?«
»Nein. Ich gehe zu Fuß. Ich will nur nach gegenüber, aber es kann eine Weile dauern.«
Draußen war es heißer denn je, doch die Sonne verschwamm in glasigem Dunst zu einem grellen, bleiernen Leuchten.
»Morgen, Maresciallo.«
»Oh, Maresciallo! Trinken Sie einen Kaffee mit?«
Das Licht war so grell, daß die Augen trotz der dunklen Brille schmerzten. Er betupfte sie mit einem zusammengefalteten Taschentuch, schob die Brille in seine Brusttasche und drückte die Klinke zum Antiquitätengeschäft. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er spähte in das dämmrige Ladenlokal. Die Lampe auf dem Sekretär brannte, aber es war niemand da. Rinaldi konnte natürlich grade hinten im Lager sein.
Er klopfte an die Glasscheibe, wartete, versuchte es mit der Klingel. Wahrscheinlich gingen die Lagerräume auf einen Hof mit
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