Nachtblüten
nichts mehr helfen kann. Das Problem ist nunmehr ein rein juristisches. Wir wollen diejenigen dingfest machen, die für den Überfall auf sie verantwortlich sind. Der Rest ist Geschichte.«
»Ja, natürlich. Sie haben recht. Mir fehlt die Kompetenz, um… Aber Sie werden zu ihm gehen?«
»Versprochen. Und ich sorge dafür, daß Rinaldi weiterhin unauffällig beschattet wird. Wenn wir ihn lange genug in Ruhe lassen, das Gerücht ausstreuen, unser Fall sei mit der Festnahme der beiden Träger abgeschlossen – ich lasse die Jungs auf Kaution frei –, dann wird er irgendwann leichtsinnig werden und wieder übers Festnetz telefonieren. Womöglich trifft er sich nach einer Weile sogar wieder mit den beiden. Warum auch nicht? Sie arbeiten schließlich für ihn. Mit der Zeit werden alle unvorsichtig, fallen in ihre alten Gewohnheiten zurück. So gesehen ist es sogar von Vorteil für uns, wenn Rinaldi glaubt, er könne uns ins Gesicht lachen, wie Ihr Lorenzini meint.« Der Staatsanwalt erhob sich und drückte auf die Eject-Taste. »Ich lasse uns eine Kopie von dem Video machen und bringe D’Ancona das Original zurück.«
Der Maresciallo erhob sich gleichfalls und griff nach seiner Mütze. »Und was soll ich als nächstes tun?«
»Weiß ich nicht, aber ich weiß, was ich jetzt machen werde: Ich geh rüber in mein chaotisches Büro und rauche eine Zigarre. Vorher sollten wir allerdings noch das Ding ausschalten… So, dann wollen wir mal.«
Draußen auf dem Gang sah er den Maresciallo prüfend an und sagte: »Gönnen Sie sich mal eine Pause, Guarnaccia. Im Moment können Sie in dem Fall sowieso nicht viel tun. Haben Sie sonst viel um die Ohren zur Zeit?«
»Nein…«
»Das klingt nicht sehr überzeugend.«
»Nein, nein… Nur ein Fall, in den ich hineingezogen wurde, nicht einmal mein Fall, aber…«
»Kommen Sie rein und setzen Sie sich einen Moment.«
Der Maresciallo ging mit sich zu Rate. Hatte er es nicht selbst gesagt, als er erfuhr, daß Sara Hirsch ihn D’Ancona gegenüber als Vertrauensperson gerühmt hatte, als jemanden, dem sie sich anvertraut hätte, auch wenn das gar nicht stimmte? Erst wenn es zu spät ist, hatte er gesagt, erkennt man, daß Hilfe möglich gewesen wäre, wenn man nur jemandem Vertrauen geschenkt und sich geöffnet hätte. Er saß, die Hände auf die Knie gestützt, stumm vor dem Schreibtisch des Staatsanwalts und versuchte sich dazu durchzuringen, seinen eigenen Rat zu befolgen.
Der Staatsanwalt versuchte hartnäckig, einen Aschenbecher aufzustöbern.
»Es mag unordentlich aussehen, aber solange niemand hier aufräumt, weiß ich genau, wo alles ist… Ah!« Er zündete sich ein Zigarillo an und lehnte sich zufrieden zurück.
»Ich wollte Sie übrigens noch was fragen. Ich habe heute früh mit Ihrem Capitano gesprochen – sehr früh, geht der Mann eigentlich jemals heim, oder – na, egal, jedenfalls haben wir die Überwachung Rinaldis diskutiert, und da kam er auch auf Sie zu sprechen. Anscheinend ist er ein bißchen in Sorge um Sie. Daher auch meine Frage, ob Sie im Moment viel um die Ohren haben. Maestrangelo erzählte mir von der jüngsten Albaneraffäre, das junge Mädchen auf der Autobahn. Sie waren dabei?«
»Ja, ich war dabei. Und wenn ich früher…«
»Wie geht’s dem Mädchen?«
»Sie ist zweimal operiert worden. Jetzt hat man sie in eine Reha-Klinik gebracht, wo sie wieder laufen lernen soll, aber es klappt nicht besonders. Sie weint immerzu nach ihrer Mutter.«
»Ich fürchte, die Mutter wird umgekehrt nicht um sie weinen. Und wenn doch, dann sucht sie jedenfalls nicht nach ihr. Aber man wird ihr schon wieder auf die Beine helfen, warten Sie’s nur ab. Und wenn es soweit ist – ich glaube, ich habe Ihnen schon erzählt, daß ich früher als Jugendrichter gearbeitet habe?«
»Ja.« Guarnaccias Miene hellte sich auf. »Könnten Sie vielleicht etwas für sie tun?«
»Ich glaube schon. Ein guter Freund von mir – ein sehr alter Freund obendrein, wir sind schon zusammen in die Grundschule gegangen – leitet draußen auf dem Land ein Heim für notleidende Kinder. In meiner Zeit als Jugendrichter habe ich seine Hilfe oft in Anspruch genommen. Sie kennen ja diese Fälle. Ein Mann ermordet seine Frau, er wandert in den Knast, und die Kinder sind auf einen Schlag Doppelwaisen. Oder nehmen Sie all die Fälle von Kindesmißhandlung, sexuellem Mißbrauch innerhalb der Familie, Kinder, die in Gott weiß welchen Ländern gestohlen wurden und vor ihren Peinigern, die sie
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